Der schwere Job der Turnier-Stewards...Katalog soll helfen Drucken
Geschrieben von: Oliver Wehner/ "Die Rheinpfalz"   
Montag, 28. April 2014 um 10:47

Ludwigshafen. Aggressives Reiten auf den Vorbereitungsplätzen der Turniere ist ein Reizthema vor allem in der deutschen Szene. Experten haben nun anhand der Dressur einen Kriterienkatalog erarbeitet, der die Beurteilung dem Aufsichtspersonal, aber auch Zuschauern und natürlich den Menschen am anderen Ende der Zügel erleichtern soll - damit nicht nur Momentaufnahmen zählen…


Neue Tatort-TV-Krimis schießen wie Pilze aus dem Boden. Der „Tatort Abreiteplatz“ wurde noch nicht ins ARD-Programm aufgenommen. Es geht auch weniger um bewegte Bilder, die zuletzt die Diskussion um dieses heiße Thema in der Reitsportszene neu entfachten, sondern häufig um Momentaufnahmen. Etwa die kläglichen Fotos von Millionenpferd Totilas bei der Vorbereitung für die Turnierprüfungen in Hagen vor zwei Jahren: Matthias Rath ritt damals den Rapphengst phasenweise in der sogenannten Rollkurweise, wissenschaftlich verbrämt auch Hyperflexion oder (vor allem in Holland) „Low, deep and round“ (LDR) genannt - durch vom Reiter gewollte und gewaltsame Überdehnung des Pferdehalses mit den Zügeln landet die Nase kurz vor, neben oder sogar an der Brust. In Raths Prüfung selbst war alles in Ordnung - aber die Fotos vom Abreiten setzten schnell das Thema: Bei dem dann auch irgendwie jeder mitreden wollte und konnte.

 

Spätestens seit Hagen warten Zuschauer und oft auch selbst ernannte Foto-Reporter an den Turnierabreiteplätzen nur darauf, bis mal wieder eine Pferdenase hinter die optimal senkrechte Linie rutscht, das Genick nicht mehr wie gewünscht der höchste Punkt ist. (Vor)schnell sind dann Urteile gefällt - und wandern schnurstracks und anklagend ins Internet.

 

Aber es geht dabei um so viel mehr als „nur“ die Rollkur. „Dieses Thema ist omnipräsent seit vielen Jahren“, weiß Dr. Dennis Peiler, der Sportchef der Deutschen Reiterlichen Vereinigung (FN). 2012 sei die Idee entstanden, sich „in Ruhe mit allen Facetten auseinander zu setzen“. Und nun, da die Ergebnisse eines Expertengremiums aus Tierärzten, Trainern, Reitern, Richtern und Sportwissenschaftlern am Beispiel der Dressur auf dem Tisch liegen, soll ein Kriterienkatalog „zur Beobachtung von Pferd und Reiter“ an allen Vorbereitungsplätzen, also nicht allein in der Dressur, mehr Sicherheit und Transparenz im Umgang mit dem heiklen und so wichtigen Thema geben. „Wir reden über Grenzgängerei“, erläutert Peiler, „ist es noch ertragbar oder nicht? Muss eingeschritten werden oder nicht?“

 

Stichwort einschreiten. Hier ist das Aufsichtspersonal an den Plätzen gefragt, also Richter oder Stewards. „Der Kriterienkatalog macht es eindeutiger“, findet Klaus Ridder als Vorsitzender der Fachgruppe Dressur in der deutschen Richtervereinigung. Er stellt klar: „Der Richter auf dem Vorbereitungsplatz ist nicht die Polizei!“ Er soll für einen fairen Ablauf sorgen, da „hilft der Katalog sicherlich“.

 

Thies Kaspareit, Olympiasieger mit der Vielseitigkeitsmannschaft 1988 und heute FN-Ausbildungsleiter, war vor zwei Jahren bei besagtem Abreiten von Totilas in Hagen vor Ort. Er erinnert sich daran, dass sich die Aufsicht führende Richterin spürbar unsicher fühlte. Matthias Rath wurde beim ersten Abreiten nicht angesprochen, obwohl eine Grundlage dafür schon damals vorhanden gewesen wäre, betont Kaspareit: „Es gibt ja keine Regeländerungen, weil die Leistungsprüfungsordnung schon immer alles abgebildet hat.“ Es gehe der FN mit dem Kriterienkatalog, der zur Grünen Saison auf allen nationalen Turnieren - von Klasse E bis Grand Prix - zum Einsatz kommen soll, nicht darum, „mehr Reiter zu verwarnen, sondern den einen oder anderen zum Umdenken zu motivieren und so zu besserem Reiten zu kommen“.

 

Das klingt nach „Klassiker“ Paul Stecken, den Ausbilderlegende Klaus Balkenhol, selbst in der Expertenkommission tätig, gern so zitiert: „Richtig reiten reicht!“ Der Katalog bündelt natürlich auch die Merkmale für dieses richtige, pferdegerechte Reiten. Und liefert überdies Merkmale für Auffälligkeiten und schließlich nicht-pferdegerechtes, also schlechtes und sogar tierquälerisches Reiten. Dabei geht es eben bei Weitem nicht nur um enge Kopf-Hals-Haltung. Kaspareit: „Das passiert, da entsteht auch mal ein Foto, aber das darf kein Dauerzustand sein.“ Das Pferd müsse in Kombination mit der Reitereinwirkung als Ganzes betrachtet werden - Bewegungsablauf, Maultätigkeit, Augenausdruck, Schweifhaltung, Ohrenspiel, Atmung. „Man möchte losgelassene und zufriedene Pferde sehen“, weiß Dressur-Bundestrainerin Monica Theodorescu - nicht nur später im Prüfungsviereck, sondern schon nebenan auf dem Abreiteplatz.

 

Bei Auffälligkeiten sollen die Aufsichtspersonen das Geschehen im Auge behalten und den Reiter oder seinen Trainer ansprechen und nach den Gründen für seine anhaltende Reitweise ansprechen. Nicht-pferdegerechtes Verhalten macht sofortiges Handeln erforderlich. Ridder: „In aller Regel sprechen wir den Trainer an und rennen nicht publikumswirksam zum Reiter.“ Das Thema ist auch zu wichtig, um daraus eine Richter-Show zu machen. Auch wenn Kaspareit auf die Gelben (Verwarnung) und Roten (Prüfungsausschluss) Karten verweist, die seit 2008 bereits zur Verfügung stehen, aber zumindest in der Dressur, anders als in der Vielseitigkeit, nicht verpflichtend seien.

„Wir müssen uns als Verband nun daran messen lassen“, stellt Dennis Peiler mit Blick auf die Vorreiterrolle der FN fest. Der Weltverband FEI beschäftige sich bereits mit dem Katalog, die Schweizer FN wolle ihn gar übernehmen. Und selbst die in der Szene äußerst kritisch beäugten Niederländer zeigen offenbar Interesse ...

 

Zur Sache: Der Kriterienkatalog - ab hier wird’s kritisch

 

Auffälligkeiten (Folge für das Aufsichtspersonal/die Richter: Beobachtung und Verlaufskontrolle), u.a.:

Falsche Anwendung der reiterlichen Hilfen oder Techniken
Ständiges Rückwärtswirken mit der Hand oder Riegeln
Herbeiführen einer engen Kopf-Hals-Haltung des Pferdes; Stirn-Nasen-Linie hinter Senkrechte
Situativ unangemessenes Treiben und unangemessener Einsatz der Gerte und der Sporen
Takt-/Balancestörungen
Auffallend schwerfälliger Bewegungsablauf (Ermüdung, Erschöpfung, Überforderung)
Kurzzeitiges Treten oder Buckeln nach den reiterlichen Hilfen
Zähneknirschen, offenes Maul, Zunge raus, Zunge überm Gebiss
Hervortreten der Augen des Pferdes, weit aufgerissene Augen
Angelegte Ohren, ohne Unterlass nach hinten zeigend
Wiederholtes Schlagen mit dem Kopf; deutlich gegen den Zügel
Häufiges Schweifschlagen
Übermäßiges Schnauben/Husten
Sehr viel Schweißbildung am ganzen Körper
Auffälliger Gebrauch von Spezial-Zäumungen.

 

Nicht pferdegerecht (sofortiger Handlungsbedarf), u.a.:

Aggressives Verhalten des Reiters, unangemessene emotionale Ausbrüche
Gezielt gegen das Pferd gerichtete Einwirkung
Grober und falscher Gebrauch der Hilfen und Hilfsmittel
Verletzung durch Sporen, Gerte, Gebiss, Ausrüstung
Lahmheiten des Pferdes
Ständiges, massives Kopfschlagen; auffällig weggedrückter Rücken
Ständiges, sich dauernd wiederholendes Buckeln
Zunge abgeklemmt/blau angelaufen; Blut und Wunden im oder am Maul oder an Nüstern
Offene, blutige Scheuerstellen
Fortlaufend extrem tiefe Kopfposition des Pferdes in Verbindung mit enger Kopf-Hals-Haltung
Stumpfer, nach innen gekehrter, apathischer Blick; Ohren extrem seitlich heruntergedrückt
Ständiges und heftiges Schweifschlagen; ständig deutlich eingeklemmter Schweif
Falscher Gebrauch der Kandare mit fest anstehendem Kandarenzügel
Extrem kurz verschnallte Kinnkette. (rhp/Quelle: FN)

 

 

 

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