Die deutsche FN schaute zulange zu... Drucken
Geschrieben von: Leopold Pingitzer/ DL   
Freitag, 07. September 2018 um 13:25

Wien. Der Bericht im „Der Spiegel“ über mutmaßliche Alkohol-Exzesse und sexuelle Grenzüberschreitungen einiger deutscher Nachwuchs-Springreiter hat das öffentliche Image des Pferdesports schwer beschädigt. Auch die deutsche FN steht unter Druck und sieht sich mit dem Vorwurf konfrontiert, zu lange zugesehen zu haben. Ein Kommentar von Leo Pingitzer in ProPferd.At.

 

 

Ganze sechs Seiten hat das Nachrichtenmagazin ,Der Spiegel’ in seiner Ausgabe Nr. 36 dem Thema gewidmet. Es ist ein Bericht, der unter die Haut geht und der die ansonsten so stolze und selbstbewusste Reitsportnation Deutschland an einer empfindlichen Stelle trifft, nämlich beim eigenen, erfolgsverwöhnten Nachwuchs, um den man üblicherweise von der ganzen Welt beneidet wird. Auf eine kleine Gruppe dieser Jungstars dürfte das nicht länger zutreffen: ,Der Spiegel’ beschreibt das schrankenlose Treiben einer Clique deutscher Nachwuchs-Springreiter, die auf nationalen und internationalen Turnieren und sogar auf Europameisterschaften nicht nur durch Alkoholexzesse, verbale Entgleisungen und Aggressionen aufgefallen sind, sondern auch durch sexuelle Grenzüberschreitungen – sogar der Vorwurf sexueller Nötigung und Vergewaltigung steht im Raum. So soll es u. a. bei den Jugendmeisterschaften in Aachen im September 2017 zu einem schweren Übergriff durch einen jungen Reiter gekommen sein: Der habe eine junge Reiterin nicht nur tätlich angegriffen und im Intimbereich begrapscht, sondern auch damit gedroht, sich an deren jüngerer Schwester (damals 15 Jahre alt) zu vergehen – dies alles in schwer alkoholisiertem Zustand. Die Familie der beiden Mädchen meldete den Vorfall an die FN, ein Disziplinarverfahren wurde eröffnet. Was die beiden betroffenen Schwestern im Laufe der Untersuchung aussagten, ist entsetzlich und schockierend: „Die führen Strichlisten, wie viele Mädels sie hatten, das war für die wie eine Aufgabe, eigentlich wichtiger als die Reiterei.“  Im Juli 2018 wurde der Reiter zu einer erstinstanzlichen Sperre von 18 Monaten verurteilt, auch die FEI und die Staatsanwaltschaft wurden informiert. Der verurteilte Springreiter ging übrigens in Berufung – nun ist das große FN-Schiedsgericht am Zug.

 

Bereits im Jahr 2015 hat ein anderer Vorfall, in dem ebenfalls Alkohol im Spiel war, den Landesverband Rheinland beschäftigt: Ein schwer angetrunkener, damals 17-jähriger Reiter war wegen ,jugendtypischem Fehlverhalten’ zu einer Geldbuße von 2.000,– Euro verurteilt worden. Was genau vorgefallen ist, ist nicht einmal der FN bekannt, der Landesverband habe mit der Begründung des Jugendschutzes nähere Auskünfte verweigert.

 

Viele andere Vorwürfe, die der ,Spiegel’-Report auflistet, gelangten erst gar nicht zur Kenntnis der FN – so auch der Verdacht, dass es bei der Nachwuchs-Europameisterschaft 2017 im slowakischen Samorin nach einem wilden Saufgelage möglicherweise zu einer Vergewaltigung eines jungen Mädchens in einem Hotelzimmer gekommen sein soll. Entsprechenden Hinweisen gehen derzeit lt. ,Spiegel’ die Staatsanwaltschaften in Münster und in Koblenz nach. Übrigens war auch hier wieder jener junge Reiter beteiligt, der nach dem Vorfall von Aachen zu einer Sperre verurteilt worden war.

 

Für die ,Spiegel’-Redakteure sind das alles Puzzleteile, die sich zu einem „Sittengemälde“ des deutschen Nachwuchs-Springsports zusammenfügen. Den Hintergrund bildet ein Phänomen, das seit vielen Jahren existiert, das aber dennoch kaum jemals ernsthaft und offen angesprochen bzw. diskutiert wurde: das Alkoholproblem im Reitsport. Dass es ein solches gibt, wird niemand ernsthaft bestreiten, doch mittlerweile hat es eine neue, bedrohliche Qualität erreicht, wie auch Springreiter und Trainer Holger Hetzel gegenüber dem ,Spiegel’ bestätigte: „Es hat sich etwas verändert in den letzten Jahren. Alkoholkonsum und Partymachen haben sich verschärft!“

 

Der wohl gravierendste Vorwurf, der sich aus dem umfangreichen ,Spiegel’-Bericht ergibt, ist die zögerliche und bisweilen inkonsequente Linie der Deutschen FN: Die Nachsicht (mit den mutmaßlichen Tätern, Anm.) sei im Zweifelsfall immer noch größer als die Vorsicht – und viele Vorkommnisse, auch wenn sie gemeldet werden, würden nur halbherzig untersucht und verfolgt, so der ,Spiegel’. Als Beispiel wird ein Zwischenfall beim Turnier in Hagen am Teutoburger Wald angeführt, bei dem eine Springreiterin nachts um drei bewusstlos neben dem Festzelt gefunden wurde. Sie kam ins Krankenhaus, war aber am nächsten Tag wieder fit genug, um entlassen zu werden. Ihre Familie schrieb später dem Landesverband Rheinland-Pfalz, dass ihrer Tochter möglicherweise K.O-Tropfen verabreicht worden waren. Eine gründliche Untersuchung gab es nicht.

 

In Erklärungsnot brachte die FN auch das Vorgehen von Bundestrainer Otto Becker, der den eingangs erwähnten Springreiter – obwohl bereits das Disziplinarverfahren lief – immer noch auf internationalen Turnieren einsetzte, mit Hinweis auf die „Unschuldsvermutung“. Dies sei ein Widerspruch zur offiziellen Verbandshaltung, so der Vorwurf des ,Spiegel’. Die FN – die noch am Erscheinungstag eine umfangreiche Stellungnahme zum Artikel veröffentlichte – wies diese Sichtweise aber in einem am nächsten Tag durchgeführten Pressegespräch zurück. FN-Generalsekretär Sönke Lauterbach: „Diesen Widerspruch gibt es nicht. Die Unschuldsvermutung gilt auch für uns im Sportrecht. Das Verfahren lief, der Bundestrainer hat einen startberechtigten Reiter benannt, insofern war die Nominierung juristisch und auch sportfachlich richtig. Jetzt haben wir eine andere Situation, die Disziplinarkommission hat geurteilt. Bis zum rechtskräftigen Urteil wird der Bundestrainer den Reiter nicht mehr über sein Kontingent nominieren.“

 

Der FN ist der Ernst der Lage offenkundig bewusst – und das ist ganz ohne Zweifel das große Verdienst der ,Spiegel’-Enthüllungen. Keine Fachzeitschrift und auch keine Website aus der Pferdeszene hätte ähnliches bewirken und eine ähnliche öffentliche Aufmerksamkeit erregen können. Doch nun kommt es darauf an, die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen und die nötigen weiteren Schritte zu setzen. Die von der FN bereits begonnenen Atemkontrollen für Kaderreiter mit einem Alkoholmessgerät sind ein Anfang – aber nicht mehr. Man wird nicht umhin können, noch mehrere dieser Geräte anzuschaffen und auf möglichst vielen Turnieren Tests durchzuführen, die jeden teilnehmenden Reiter treffen können.

 

Doch noch wichtiger wird es sein, durch eine Vielzahl weiterer Maßnahmen – Information, Prävention und Aufklärung – für einen Bewusstseinswandel im Reitsport zu sorgen. Wie aus den Kommentaren und Postings in den sozialen Netzwerken deutlich wird, ist der Reitsport – allen voran offensichtlich der Springsport – mittlerweile tief vom Alkohol geprägt: Vielfach ist das Besäufnis und das Remmidemmi auf der Reiterparty längst wichtiger als der Große Preis, und trinkfeste „Vorbilder“ für die Jugendlichen gibt es zuhauf. Das alles ist traurige Realität – und alle Beteiligten wissen das und nehmen es schweigend hin. Das muss sich ändern – es braucht, auch wenn das ein hochgegriffenes Wort sein mag, einen Kulturwandel in der Reiterei, mit neuen, strikten Regeln und neuen positiven Vorbildern. Das aber kann nicht allein die Aufgabe der Verbände und der Funktionäre sein – hier muss jeder vor der eigenen Türe kehren und auch sein persönliches Verhalten überdenken, die Reiter ebenso wie Betreuer, Trainer und Eltern. Oder der Pferdesport wird sich zu Tode saufen.

,Der Spiegel’ hat dem deutschen Reitsport mit seinem vieldiskutierten Beitrag buchstäblich einen Spiegel vorgehalten – und diesem sein hässliches Gesicht gezeigt. Es ist hoffentlich ein Weckruf für alle Pferdesportler und alle Pferdesportverbände – nicht nur für die deutschen. Denn gerade bei sexuellen Grenzüberschreitungen sind es zwar nur Einzelfälle, die tatsächlich an die Öffentlichkeit geraten – aber es ist immer auch nur die Spitze des Eisberges, die aus dem Meer ragt. Allen Beteiligten muss bewusst sein: Gerade bei diesen Delikten ist die Dunkelziffer stets um ein Vielfaches höher, denn viele Betroffene schweigen und erstatten keine Anzeige – aus Scham, aus Angst oder aufgrund des Drucks aus dem sozialen Umfeld, der in der geschlossenen Szene der Reiterei zweifellos besonders groß ist, wie der ,Spiegel’-Bericht ebenfalls zeigt.

 

Alle, die auch nur in irgendeiner Weise mit dem Thema Pferd und Pferdesport verbunden sind, tun gut daran, das Problem ernst zu nehmen. Ursula Enders, die Leiterin des Vereins Zartbitter Köln e.V., brachte es auf den Punkt: „Man kann nur hoffen, dass die Reiterliche Vereinigung nun wachgerüttelt wird.“

 

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