Der Traum eines kleinen Mädchens...(152) |
Geschrieben von: Uta Ludwig |
Donnerstag, 06. Dezember 2012 um 14:27 |
Polly und "Die Kraniche des Ibykus"...
Polly trainierte fast jeden Tag. Ihr war es wichtig, dass sich ihr Pferd wohl fühlte. Dazu gehörte es, dass es nicht vierundzwanzig Stunden in ihrer Box herumstand, sondern sich einmal richtig bewegen konnte. Das bot sie dem Pferd, indem sie die Tinker-Stute Beauty einmal am Tag in die Reitbahn des Reitstalles Hubertus führte, um sie dort zu reiten.
In der vergangenen Woche stand „Stellung und Biegung“ auf ihrem Trainingsplan. Das hatte sich als große Schwierigkeit herausgestellt. Beauty war auf der rechten Hand ganz leidlich gebogen, auf der linken überhaupt nicht. Polly hatte schon fast die ganze Woche geübt, der Erfolg blieb aber aus. Sie benötigte Hilfe.
Vorsichtig hatte sie einmal bei ihren gleichaltrigen Kollegen nachgefragt, ob es ihnen vielleicht ähnlich erginge mit ihren Pferden. Das Echo war unbefriedigend. Die blöden Jungs grölten nur herum, wie einfach sie ihre Pferde in Stellung/Biegung ziehen würden, am inneren Zügel. Andere behaupteten, sie hätten da gar keine Probleme. Die „ach so kluge“ Britta wollte einen Vortrag über Zügel- und Schenkelhilfen halten, kam aber Gott sei Dank nicht zu Wort. Kordula machten den Vorschlag, Beauty bereiten zu lassen. Das aber mochte Polly auf keinen Fall. Sie wollte es unbedingt selber schaffen. Sie wollte es können, um eine gute Reiterin zu werden. Diese Klugscheißer konnten ihr sowieso nicht helfen.
Am Samstagnachmittag ergab es sich, dass Joachim und Aggi alleine am Jugendtisch in der Tränke saßen. Eigentlich gehörte Aggi ja schon zu den Erwachsenen, die meistens am Tresen standen. Polly setzte sich einfach dazu. Sie betrachtete den jungen Reitlehrer und die Tochter des alten Reitlehrers. Die hier gemeinsam sitzen zu sehen…seltsam. Ob die befreundet sein könnten, fragte sich Polly. Aggi hatte doch den Sportgeschäfts-Mann.
Jedenfalls wartete Polly, bis einer von den beiden sie ansprach. Sie nutzte die Gelegenheit und erzählte von ihrem großen Problem. Sofort bot Aggi an, sich einmal auf Beauty zu setzten. Sie meinte es ganz lieb. Aber genau das war es ja, was Polly nicht wollte. Unter keinen Umständen wollte sie aber unhöflich erscheinen. Aber wie sollte sie es Aggi sagen, dass das nicht die Hilfe war, die sie gerne hätte.
Joachim kam ihr zu Hilfe. Er gab praktische Ratschläge, die Beauty rechts und links weicher machen sollten. Dabei stellte sich heraus, dass Polly mit ihren Runden, rechte Hand und linke Hand auf dem Zirkel geritten, ganz richtig gelegen hatte. Joachim schlug zur Steigerung noch vor, Achten auf dem Zirkel zu reiten: halbe Volte links, halbe Volte rechts.
„Es klappt aber nicht“, jammerte Polly. Die beiden gaben sich wirklich Mühe, Polly gute Ratschläge zu erteilen. Das Endergebnis war, dass Polly einfach konsequenter die Hilfen geben musste. So dürfe sie unter keinen Umständen das Pferd am inneren Zügel in die Biegung ziehen wollen. Der innere Zügel sollte allenfalls etwas Stellung geben und sofort wieder etwas nachgegeben werden. Immer wieder annehmen, nachgeben, annehmen nachgeben. Bleibt der innere Zügel festgehalten oder sogar gezogen, würde Beauty unwillkürlich über die äußere Schulter nach außen weglaufen, also die Zirkellinie verlassen. Dann sei es doch besser, das Pferd einmal kurzfristig nach außen zu stellen, um sofort wieder die Innenstellung erneut herzustellen.
Diese Erklärung fand Polly ziemlich theoretisch. Joachim musste das ganze zweimal erklären. Schließlich bot er an, er würde Montag um 17 Uhr in die Reitbahn kommen. Polly solle gleich mit der Lösungsphase beginnen, dann würde er ihr schon helfen.
Polly war sehr erleichtert. Sie bekam also eine Einzelstunde bei Joachim. Der würde ihr schon helfen. Dann würde Beauty endlich rechts und links gleich weich biegsam werden. Sie freute sich auf Montagnachmittag.
Am Montag wachte sie früher auf als sonst, sie war freudig erregt, sie ging sogar lieber zur Schule als gewöhnlich. Eine Einzelreitstunde erwartete sie, welch ein Traum.
Dann begann die Deutschstunde. Wieder einmal schaute Polly verträumt zum Fenster hinaus, als die Klasse „Die Kraniche des Ibykus“ von Friedrich von Schiller rezitieren übten. Plötzlich sollte sich die Klasse setzen. „Polly, komme bitte nach vorne und trage die Ballade der Klasse vor. Du hast soeben nicht mit den anderen mitrezitiert. Mal sehen, ob Du das Gedicht schon auswendig kannst“, sagte die Lehrerin. Polly wurde kreidebleich. Sie konnte das Gedicht nicht aufsagen. Die Strafe folgte sogleich: Das Gedicht dreimal abschreiben – bis morgen.
Die Kraniche des Ibykus Von Friedrich von Schiller
Egal! Hauptsache Unterricht bei Joachim. Der erschien auch pünktlich in der Reitbahn. Polly war gerade dabei, das erste Mal leicht zu traben. Alles, was er an dem Samstagnachmittag theoretisch erläutert hatte, vermittelte Joachim nun in der Praxis. Er ließ Polly die Lektionen reiten, von denen er vorher gesprochen hatte und erklärte noch einmal wie genau sie Beauty stellen sollte und vor allem, wie sie ihre Schenkel einsetzen musste. Der äußere Schenkel sollte hinter dem Gurt liegen und somit verhindern, dass die Hinterhand des Pferdes nach außen „wegschwimmt“. Nach einiger Zeit klappte das ganz gut. Am Ende der Einzelstunde war Beauty noch nicht ganz so weich auf beiden Händen wie gewünscht. Aber Polly hatte den Eindruck, schon einen großen Schritt zur gewünschten Durchlässigkeit weiter zu sein. Sie dankte Joachim höflich und fragte schüchtern, was sie ihm schulden würde. Der aber schüttelte lachend den Kopf und wollte kein Geld. Er verließ die Reitbahn und ließ sie zufrieden zurück. Dann ging Polly aus der Bahn, um Beauty zu versorgen, da überfiel sie schlagartig der Gedanke an die Kraniche. Oh weh!!! Drei Mal!!! Wie sollte sie das schaffen – die Lehrerin hatte sie wohl nicht alle… Am nächsten Tag in der Deutschstunde ging die Lehrerin unmittelbar nach der gemeinsamen Begrüßung auf Polly zu und fragte herausfordernd nach der Strafarbeit. Polly wurde rot. Nur leere Blätter lagen vor ihr auf dem Tisch. Da hob sie langsam den Kopf und schaute der Lehrerin direkt in die Augen. Sie sagte: „Ich habe die Kraniche nicht abgeschrieben. Ich musste dringend trainieren. Ich bekam eine Einzelstunde.“ Noch bevor die Lehrerin etwas erwidern konnte, sagte Polly: „Ich kann aber die Kraniche auswendig aufsagen.“ Die Lehrerin holte tief Luft, Sekunden vergingen, es war mucksmäuschen still im Klassenzimmer. Polly musste sich vor die Klasse stellen und ganz alleine das ganze Gedicht rezitieren. Sie konnte es tatsächlich. Abgesehen von ganz kleinen Stockungen, bei denen die ganze Klasse ihr drüber weg half, trug sie die Ballade fehlerfrei vor. Sie war über sich hinausgewachsen. Wenn sie das geschafft hatte, dann würde sie es auch schaffen, ihrer Beauty Dressur beizubringen…
(Fortsetzung folgt…)
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