Der Traum eines kleinen Mädchens...(172) Drucken
Geschrieben von: Uta Ludwig   
Donnerstag, 27. Juni 2013 um 10:12

 

Die Nachbarin erzählt vom früheren Aachen...

 

 

Polly war traurig. In diesem Jahr hatte sie keine Chance nach Aachen zum CHIO, dem weltgrößten Pferdesportturnier, zu kommen. Ihr Vater hatte schlichtweg gesagt, die Karten seien zu teuer. Eintrittskarten für eine ganze Familie seien für den normalen Reitsport-Begeisterten nicht zu bezahlen. Polly solle sich daran erinnern, auf was alles sie verzichten wollte, nur um ein eigenes Reitpferd zu haben. Seit letztem Sommer hatte sie ihre Beauty. Wenn sie ehrlich zu sich selber sein musste, konnte sie nicht umhin zuzugeben, dass sie nicht wirklich auf irgendetwas bisher verzichten musste. Schmerzlich erfuhr sie es nun zum ersten Mal, als es um Karten für das Reitturnier in Aachen ging.

 

Dabei war ihre Begeisterung so groß. Sie hatte auf dem dritten Fernseh-Programm Ausschnitte vom Voltigieren gesehen. Besonders gefiel ihr ein Mädchen, Corinna Knauf, die hervorragend auf dem galoppierenden Pferd turnte. Polly konnte den Wettbewerb verfolgen. Zwei Deutsche Mannschaften haben sich im Nationenpreis der Voltis gegen die anderen durchsetzen können. Polly war so aufgeregt, dass sie kurze Zeit mit sich haderte, ob sie nicht besser zum Voltigieren gegangen wäre als als vielmehr eine Dressurreiterin werden zu wollen.

 

Dann aber besann sie sich auf ihre Leidenschaft fürs Dressurreiten. Das andere war ja eigentlich sowieso „nur“ Turnen auf und am galoppierenden Pferd. Das hatte mit Reiten nicht viel zu tun,  fand sie.

 

Als sie Beauty zum Training in Reitbahn führte, dachte sie wieder an Corinna Knauf. Es war schon sehr beeindruckend, was die da auf dem Pferd konnte. Wie von selbst dauerte die Abreitephase an dem Nachmittag nicht lange. Polly galoppierte unwillkürlich an. Dabei versuchte sie, Beauty so im Takt zu halten, wie sie es bei dem Voltigierpferd im Fernsehen gesehen hatte. Gar nicht so einfach, fand sie. Erst einmal musste Beauty ziemlich versammelt galoppieren. Polly stellte sich dabei vor, wie sie nun die Füße aus den Steigbügel nehmen müsste, dann erst den einen, danach den anderen Fuß auf den Sattel stellen, um sich dann ganz aufzurichten. Und dann würde sie mit Glück das Gleichgewicht so halten können, dass sie im Sattel wenigstens ein paar Sprünge aufrecht stehen bleiben könne. Aber es blieb nur in ihrer Phantasie dabei…

 

Sie bemerkte, dass Beauty in einem gleichmäßig versammelten Galopp nur wenige Runden aushalten konnte, oder sie selber hatte nur wenig Kondition Runde um Runde zu galoppieren. Jedenfalls musste sie die Leistung eines Voltigierpferdes anerkennen. Dabei spielte das Tier in dem Sport nur eine Nebenrolle. Selten wurde der Name eines Voltigierpferdes genannt, die Frau oder Mann an der Longe fand auch selten Nennung. Die Sportler, die auf dem Pferderücken herumturnten, sie waren die Hauptakteure.

 

Polly wandte sich wieder den Dressurlektionen zu. Das war schwierig genug. Statt Runde um Runde zu galoppieren, ritt sie nunmehr viele Übergänge. Um den Galoppsprung zu erweitern, wie für Mittelgalopp oder starken Galopp, schob sie Beauty an. Dann machte sie die Beine zu und nahm das Tempo ganz zurück, um große Versammlung zu erreichen. Sie ritt dann Volten, aus denen sie wieder zulegte. Später ritt sie die gleichen Lektionen noch einmal im Trab. Das hatte sie ganz gut hinbekommen. Beauty war richtig gut durchlässig. Sie reagierte empfindlicher auf die Hilfen als sonst. Das mit den Übergängen und der daraus entstehenden Verbesserung der Durchlässigkeit predigten die Reitlehrer andauernd. Aber es erforderte viel Selbstdisziplin. Das war ganz schön anstrengend und kostete Kraft.

 

Polly zeigte sich sehr zufrieden mit sich selbst und mit Beauty. Sie hatte ein tolles Gefühl gehabt, die Lektionen auf so einem weichen und geschmeidigen Pferd zu absolvieren. Polly verließ in bester Laune die Bahn, um Beauty noch im Freien spazieren zu reiten. Die allzu teuren Aachen-Karten hatte sie vollkommen vergessen. Sie ritt am hingegebenen Zügel den Feldweg entlang.

 

Insgeheim hoffte sie, die interessante Nachbarin mit dem verwunschenen Garten würde draußen sein. War sie auch. Polly hielt Beauty sofort an und grüßte die Nachbarin laut und vernehmlich. „Hallo Polly, hast Du Lust hereinzukommen“, erwiderte sie freundlich und kam schon zum Gartentörchen hin. „Du könntest Beauty absatteln und grasen lassen“, schlug sie vor. „Lass uns Kakao trinken und Kuchen essen“, bot sie an. Es kam Polly gerade recht. Sie führte Beauty langsam durch das Törchen. Dabei musste sie vorsichtig darauf achten, dass das kräftige Pferd sich nicht die Hüftknochen anschlug. Das Törchen war ziemlich eng. Aber Beauty passte hindurch. Polly löste den Gurt und zog die Trense über Beautys Kopf. Sofort fing die an zu grasen. Polly konnte der Nachbarin auf die Terrasse folgen.

 

Es dauerte nicht lange, da kam das Gespräch auf das CHIO-Turnier in Aachen. Polly erzählte, dass sie am Morgen im Frühstücksfernsehen einige Bilder aus Aachen gesehen hatte. Die dänische Kavallerie vor dem Rathaus mit den Soldaten in Pracht-Uniformen hatte sie besonders schön gefunden. Dann wurden immer wieder Bilder von der dänischen Prinzessin Mary gezeigt. Für die allerdings interessierte sich Polly nicht so sehr. Dann kamen lauter Prominente, die das Turnier besuchten. Politiker, Filmschauspieler und Moderatoren, die Polly zwar vom Sehen im Fernsehen her kannte, deren Namen sie aber nicht wusste. Es war einfach zu uninteressant für sie. Der Sport interessierte sie.

 

„Ich war schon vor vielen –zig Jahren jedes Jahr auf dem CHIO“, sagte die Nachbarin. „In  den letzten Jahren nicht mehr. Es gefällt mir dort nicht mehr“, sagte sie mit Wehmut. „Warum nicht? Es ist doch das größte Reitturnier der Welt“, erwiderte Polly, die sich wunderte über die Worte der Nachbarin. Als die aber schwieg und ihren Gedanken nachhing, bat Polly, das alles  doch zu erklären. Für sie wäre es das Größte gewesen, dorthin zu kommen. Sie wollte ihren Idolen ganz nahe sein.

 

„Kannst Du das denn da?“, fragte die Nachbarin und hob zweifelnd die Augenbraue. „Klar, wenn man groß genug ist, kann man über die Hecke bis zum Abreiteplatz schauen“, sagte Polly leidenschaftlich. „Kannst Du denn auch mit den Reitern sprechen?“ fragte die Nachbarin. Polly dachte nach, wie es im vergangenen Jahr gewesen war. Kleinlaut musste sie verneinen. Die meisten Reiter hatte sie nicht einmal erkennen können, soweit weg waren sie. Erst, wenn jemand es wusste und sagte, konnte man sich denken, wer da gerade auf dem Viereck oder auf dem Platz war. In den großen Stadien hatte man es leicht, da standen die Namen von Reiter und Pferd auf riesigen Anzeigetafeln. Aber auf den Abreiteplätzen….

 

„Früher war das ganz anders“, fing nun die Nachbarin an zu erzählen. Sie schwärmte geradezu von den „alten Zeiten. „Früher war der CHIO in Aachen noch für die Pferde und die Reiter da“, sagte sie mit etwas schwerer Stimme.  Sie erzählte von den Wegen zwischen Ställen, Abreiteplätzen, Vorbereitungsvierecken und Ein- und Ausritt in die Stadien, auf denen man den Reitern ganz nahe kam. Man konnte mit denen sogar sprechen. Keine Zäune, Hecken, Metallrohre versperrten die Bereiche. Die Sportler waren nicht von den Zuschauern abgeschottet. Früher hatte es kaum Ordner gegeben, die einen alle paar Meter anhielten, um eine Zugangsberechtigung zu überprüfen.

 

Staunend hörte Polly, dass früher der CHIO als wahres Turnier organisiert wurde, bei dem die Prüfungen das Wichtigste waren. Die großen Reiter und Fahrer standen im Mittelpunkt. Heute sei das allerdings ganz anders, meinte die Nachbarin. Die Organisatoren brüsteten sich eher mit Gästen aus Politik und Showbuisness. Die Reiter, die Sportler, seien fast nur noch so notwendig wie die Ordner, die den reibungslosen Ablauf einer Promiveranstaltung gewährleisteten. „Wichtig sind heute seltsamerweise so Leute wie ein Herr Pocher, der weder ein Reiter noch ein Reitsport-Interessierter ist“, sagte die Nachbarin mit verächtlichem Ausdruck und fügte hinzu: „Was so ein Fernseh-Äffchen auf dem Turnierplatz will, weiß ich sowieso nicht. Der hat doch nichts mit Pferden zu tun.“

 

Polly staunte immer noch. Sie wusste gar nicht, wer dieser Herr Pocher sein sollte. Aber tatsächlich hatte sie viele Promis auf dem CHIO im Fernsehen gesehen. Reiter waren nicht darunter. Die Nachbarin hatte Recht. Kein einziges Mal wurde eines ihrer Idole gezeigt. So gerne würde sie einmal das Gesicht von Ludger Beerbaum oder Helen Langehanenberg sehen. Daniel Deußer war ein cooler Typ. Den hätte sie auch gerne mal in Großaufnahme vor sich. Und Philipp Weishaupt. Für sie waren die Reiter immer noch die Stars in Aachen. Die blöden Promis musste man sich ja sonst jeden Tag in den Zeitungen angucken, ob man wollte oder nicht.

 

Dann erzählte die Nachbarin noch, dass sogar die Reiter sich mit Bekannten an den Getränke-Zelten früher treffen konnten, alle seien ganz ungezwungen herumgelaufen. Jeder hätte mit jedem reden können, und viele taten das auch. Zum damaligen Zeitpunkt trank sogar ein Paul Schockemöhle oder Dr. Reiner Klimke, und die waren die bekanntesten Reiter, mit Freunden und Journalisten ein kleines Getränk zusammen. Man scherzte und lachte fröhlich dabei. Es hätte einen Fürstenberg-Bierpavillon gegeben, dort hätten sich irgendwann immer alle getroffen. Es sei überhaupt kein Problem gewesen, an die an die Teilnehmer des Reitturniers heranzukommen. Auch die Vorstandsmitglieder des ARLV, des Aachener Reitvereins, hätte man getroffen am Bierstand. Damals hätten sich alle ganz normal uhnd unaufgeregt miteinander unterhalten. Das seien nochZeiten gewesen, sagte die Nachbarin und seufzte tief. Alles wäre vorbei. Es ginge nur noch um Geld, Kommerz. Man sehe keinen Reiter mehr aus der Nähe. Und in den Prüfungen könne man die einzelnen Starter kaum noch erkennen. Alle seien so weit weg. „ Schade“, sagte die Nachbarin. Polly konnte sich alles gar nicht so vorstellen, was die Nachbarin etwas traurig erzählte.

 

Dann erklärte aber die Nachbarin, dass man den Ordnern keinen Vorwurf machen dürfe. Die hätten sonst nämlich großen Ärger, sollten sie den Zuschauern zu sehr entgegenkommen. Sicherlich würde der eine oder andere Ordner gerne einmal einen jungen Reiter näher an die „Großen“ heranlassen. Aber er darf es eben unter keinen Umständen.

 

Die Nachbarin seufzte. Polly hing eigenen Gedanken nach. Vielleicht war es gar nicht so schlimm, keine Karte für Aachen zu haben. Sie würde ihren Idolen bestimmt einmal woanders begegnen. Da, wo man an sie herankommt. Ohne Absprerrungen und ohne Ordner. Und, ob sie nun zuhause am Fernseher oder vor Ort auf einer Leuchttafel den Ritten zuschaut… Dann bleibt man doch besser zuhause.

 

(Fortsetzung folgt…)

 

 

 

 

 

 

 

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