Der Traum eines kleinen Mädchens...(174) Drucken
Geschrieben von: Uta Ludwig   
Donnerstag, 25. Juli 2013 um 10:41

 

Polly sieht ein Gespenst - oder doch nicht?

 

Die heutige Reitstunde verlief ganz unterschiedlich. Und es gab da wieder einmal Momente, da hätte Polly ihre sonst so geliebte Stute Beauty mit der langen Reitgerte verprügeln können. In der nächsten Lektion überraschte das Pferd mit größter Durchlässigkeit. Aber das Problem war eben das Fehlen von Beständigkeit. Polly war ungehalten. Sie verstand nicht, warum es manchmal klappte, manchmal eben gar nicht. Sie ritt doch immer gleich…. Oder doch nicht?

 

Von sich selber glaubte sie, in jeder Reitstunde den gleichen Einsatz zu bringen. Immer gab sie sich Mühe, fand sie. Natürlich waren da auch Reitstunden, in denen sie nicht richtig arbeitete. Dann ritt sie neben ihrer Freundin Martine oder Anja und quatschte nur. „Weibertratsch“ nannten die Jungs das. Dabei war den Mädchen völlig klar, dass die nur allzu gerne wissen würden, über was die „Weiber“ redeten, ob es um sie ging. Das natürlich erfuhren die Jungs der Clique nie.

 

Heute war wieder so ein Tag, an dem sich Polly richtig Mühe gab, mit ihrer Beauty korrekte Lektionen zu reiten. Sie wusste, dass zu den Grundübungen des feinen Reiten das Schulterherein gehörte. Hierbei sollte das Pferd mit der Hinterhand, also mit beiden Hinterbeinen und Hufen,  auf dem Hufschlag bleiben, die Vorderbeine, Vorderhufe, fußten dagegen auf dem zweiten Hufschlag, der näher zur Bahnmitte lag. Der Pferdekörper sollte leicht nach innen gebogen sein. Polly wusste auch, dass das Pferd dabei eine konstante, und das war das Wichtigste, Verbindung am äußeren Zügel haben sollte. Also: Eine konstante Anlehnung. Der innere Zügel gab nur die Stellung. Also annehmen und nachgeben, dann wieder annehmen, Stellung geben, und nachgeben, „weich“ machen, Durchlässigkeit erreichen.

 

Die theoretische Ausführung der Lektion hatte Polly nicht nur im Buch nachgelesen, sie hatte  sie sich sogar von Aggi und zusätzlich von Joachim erklären lassen. Sie wollte auf „Nummer sicher gehen“. Keine ihrer eigenen Reitkollegen und Freundinnen versuchten jetzt schon, diese Lektion zu reiten. Polly aber wusste ganz genau, wenn sie dieses Schulterherein, das Reiten, das Führen am äußeren Zügel, korrekt reiten konnte, war sie in der Lage, fast alle Lektionen zu reiten. Das jedenfalls hatte einmal der große Reitmeister Jean Bemelmans im Fernsehen gesagt und darüber auch seine Diplomarbeit zum Reitmeistertitel geschrieben. Niemals würde Polly das vergessen.

 

Mit den anderen hatte sie nie darüber gesprochen. Aber es verging kein einziger Tag, an dem sie ritt, ohne an diese Worte zu denken. Dabei wurde sie sogar von Brigitta schon einmal höhnisch ausgelacht. Die nämlich war der Meinung, dass es für Pollys Karriere viel zu früh sein, sich an solche hohen Lektionen heranzuwagen. Sie selber ritt allenfalls „Schenkelweichen“. Und das war nach Pollys Verständnis nicht wirklich hilfreich, um tatsächlich weiterzukommen.

 

Polly merkte, dass der junge Reitlehrer Joachim sie genau beobachtete. Sie sah zwar nie, dass er tatsächlich an der Bande oder in der Tränke hinter den Scheiben stand und ihrer Reiterei in der Reibahn anschaute, aber es kam immer mal wieder vor, dass er sie auf der Stallgasse ansprach. Wie zufällig und nur ganz allgemein führte sein Gespräch auf eine der vergangenen Trainingstunden von Polly. Jedenfalls kam er immer genau auf eine der Schwierigkeiten zu sprechen, die jüngst aufgetreten waren. Er sagte dann seine Meinung, und meistens hatte er einen Lösungsvorschlag. Aber immer nur ganz allgemein und für alle Situationen geltend. Nie gab er zu, dass er tatsächlich Polly im Training beobachtet hatte. Nie also konnte Polly sicher sein, dass Joachim sich auf ein ganz bestimmtes Problem des letzten Trainings bezog.

 

Noch beim Abpflegen von Beauty und beim Aufräumen ihrer Klamotten dachte Polly genau darüber nach. Sie war dabei so in Gedanken, dass sie unbeabsichtigt  ein zweites Mal in die Sattelkammer ging, um Stallbandagen aufzuwickeln, um Beauty für die Nacht „einzupacken“. Dabei war das Pferd schon bandagiert, das Halfter auch schon abgezogen. Beauty trug nie ein Halfter in der Box, das Pferd sollte sich nach der Arbeit wohlfühlen. Und was Polly dafür tun konnte, das machte sie auch.

 

Es war schon etwas spät geworden. Viele ihrer Freunde waren schon mit ihren Eltern in Urlaub gefahren. Überall Ruhe im Stall. Die Zwanziguhr-Abteilung der Erwachsenen auf Schulpferden war auch schon beendet, die Hobbyreiter saßen bereits in der Tränke an langen Holztischen und tranken kühles, frisch gezapftes Bier vom Fass. Die Stimmung stieg, nur von Pollys Freunden war keiner mehr da.

 

Vorhin hatte Polly sogar den Stall- und Pferdepfleger Pitter in seinem „guten Anzug“ fortgehen sehen. Der Stallbereich war völlig ausgestorben. Allein das Mahlen der Pferdezähne auf dem Heu und Stroh konnte man hören.

 

Polly streunte durch jede Ecke des Stalles. Immer noch war sie in Gedanken, warum sie es nicht fertig brachte, jedes Mal die Lektion so zu reiten, dass es ihren Anforderungen selbst genügte. Praxis und Theorie lagen doch meilenweit auseinander. Es beschäftigte sie arg.

 

In Gedanken versunken ging sie zu der Holzleiter, die auf den Heuboden führte. In den letzen vier Jahren war Polly nicht mehr dort oben gewesen. Sie hatte dort auch nichts zu suchen. Ach ja, im letzten Jahr war sie doch einmal dort gewesen. Ihre Freunde aus der Clique auch. Das war aber eine Ausnahme. Das passierte auch nur, weil der Pitter krank war, gerade als der Bauer eine Ladung frisch gepresster Heuballen brachte. Die Kinder und Jugendlichen halfen beim Abladen und beim Stapeln. Herr van Hopps, der Stall-Reitlehrer, gab an, wie die Ballen gestapelt werden sollten. Pollys Clique erledigten die Arbeit. Zum Dank hatte der Reitlehrer nachher eine ganze Ladung Eis, sogar mit Schlagsahne, in den Reitstall liefern lassen. Das war cool gewesen !!!

 

Heute war sie ganz allein, Tritt für Tritt stieg sie auf den Leitersprossen nach oben. Auf dem Speicher war es warm, sehr warm. Nur ganz wenig Licht kam durch die Ritzen zwischen den einzelnen Dachziegeln. Das aufgestapelte Heu und Stroh ließ noch weniger Helligkeit von außen herein. Es wurde nun doch auch schon wieder früher dunkler als vor einem Monat. Polly wusste aber, wo sich der Lichtschalter befand. Sie knipste das Licht an. Allein eine nackte Glühbirne, die schon viele Jahre an dem rauen Dachbalken befestigt war, gab nur eine matten, milchigen Schein von sich. In der schwülen Luft auf dem Dachboden tanzten Milliarden von Staubpartikeln herum, dass man keine Sicht weiter als zwei Meter von der Glühbirne weg hatte. Von Licht zu reden, war übertrieben, eine Funzel wirft eben nur wenig Licht.

 

Dennoch trat Polly Schritt für Schritt weiter bis zum Ende dieses Scheunentraktes, dort befand sich Durchgang zum angrenzenden Speicher. Polly wusste nicht, ob dort auch Stroh gelagert war. Die heruntergekommene Holztüre hing so schief in den Scharnieren, das sie nicht zu bewegen war. Durch den Spalt schlupfte die sehr schlanke Polly hindurch und fand sich auf einem Dachboden wieder, wo kaum mehr ein Lichtstrahl durch die Ritzen der Dachziegel hereinstrahlte. Sie fand auch keinen Lichtschalter. Die Funzel von dem benachbarten Heuboden spendete nun kaum mehr Licht.

 

Polly stolperte prompt über einen Gegenstand, der sich als alter Holzbalken entpuppte. Sie stützte sich auf etwas festem auf, das sich als Truhe herausstellte. Leider konnte sie nicht genau erkennen, um was es sich handelte. Erst als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte sie die graue Farbe der Truhe. Sie wusste aber nicht, ob es sich um den Anstrich oder nur um eine graue Staubschicht handelte. Sie wischte mit ihren Händen darüber. Es kam eine Schrift hervor. Noch dunkler. Wahrscheinlich war sie einmal schwarz gewesen, Polly entzifferte „Hafer“. Es handelte sich wohl um eine alte Futterkiste.

 

Polly griff nach dem Schloss, an dem sich ein Bügel befand, an dem man den Deckel anheben konnte. Sie bedauerte sehr, dass sie nicht alles genau erkennen konnte, was sie darin fand. Es fühlte sich weich an. Jedenfalls war es Stoff. Dann merkte sie, dass es sich um Decken handelte. Schließlich kam ein heller Stoff zum Vorschein. Eine weiße Decke. Umrandet mit einer Borde. Pollys Augen hatten sich mittlerweile etwas mehr an die Dunkelheit gewöhnt. Es war nun klar, dass es sich um eine weiße Pferdedecke handelte. Wem die Sachen hier gehörten, war völlig unklar. Sie beschloss, diese Decke mit hinunter zu nehmen.

 

Sie schlang sich die Decke um die Schultern, um sich vor den von den alten Dachbalken herunter hängenden Spinnweben zu schützen. Ihr war mulmig. Sie wusste ja nicht, ob sie an die fremden Dinge gehen durfte. Sie gehörten ihr ja nicht. Vielleicht aber waren sie vergessen und es war in Ordnung, dass sie ihre Endeckung mitnahm. Sie wandte sich um und trat den Rückweg an.

 

Allein auf dem riesigen Speicher vernahm sie jede ihrer Bewegungen und ihrer Schritte überdeutlich. Es war unheimlich so alleine. Noch war der Nachbarspeicher mit der spärlichen Funzel zehn  Meter entfernt. Polly trat jeden Schritt ganz vorsichtig auf, damit sie nicht wieder auf etwas trat oder irgendwo anstieß. Da sah sie es. Eine Gestalt stand ein paar Schritte neben ihr. In weiß. Ihre Größe, ihre Gestalt. Sie gab keinen laut von sich. Polly konnte nichts genaues erkennen. Sie glaubte nicht an Gespenster. Sie wusste, dass es keine Gespenster gab. Die gab es nur in Märchen für kleine Kinder.

 

Wo aber sollte zu dieser Zeit, in dieser Dunkelheit, jemand auf den Heuboden kommen? Ihre Freunde waren doch alle längst weg. Könnte sie doch nur genauer sehen! Aber das Licht war zu schwach. Polly wollte sich zurückziehen, sich nach unten begeben. Die Gestalt bewegte sich. Polly beschleunigte ihre Schritte Richtung Durchgang. Plötzlich war die Gestalt in weiß weg. Polly rannte zur Leiter und stieg herab so schnell sie konnte. Erst auf der voll beleuchteten Stallgasse spürte sie ihren rasenden Herzschlag. Sie vernahm das vertraute Kauen der Pferde. Sie beruhigte sich. Vielleicht hatte sie sich ja geirrt. Sie hatte nichts gesehen. Nein, da war nichts gewesen!

 

Erst als sie sicher war, dass ihre eigene Phantasie ihr einen Streich gespielt hatte, fiel ihr die weiße Decke ein, die sie sich um die Schultern gelegt hatte. Sie war wie neu. Die Bordüre war in den Deutschland-Farben. Eine wunderschöne Decke! Morgen würde sie den Reitlehrer fragen, ob sie die behalten durfte. Von dem Gespenst würde sie aber niemandem etwas erzählen.  Es gab ja auch überhaupt keine Gespenster. Hauptsache, sie konnte die Decke für ihre Beauty behalten.

 

(Fortsetzung folgt…)

 

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