Der Traum eines kleinen Mädchens...(121) Drucken
Geschrieben von: Uta Ludwig   
Donnerstag, 29. März 2012 um 12:52

Polly muss zum Psychiater...

 

 

Polly musste zum Psychiater. Sie sollte behandelt werden. Sie hatte einen Schock erlitten. Auch Martine wurde aus dem Verkehr gezogen. Deren Eltern hielten sie zu Hause, sie durfte seit letzter Woche vorerst nicht in den Reitstall kommen. Seit letzter Woche war sie auch nicht mehr in der Schule gewesen.

 

Mit Polly war das nicht zu machen. Sie bestand darauf, in den Stall zu gehen und dort ihre Pflichten zu erfüllen. Um das durchzusetzen, gab sie sogar vor, unbedingt am Schulunterricht teilnehmen zu wollen. Sie würde ansonsten zu viel Stoff verpassen. Obwohl – so kurz vor den Ferien – nicht mehr viel Unterricht stattfand. Aber das wussten ihre Eltern natürlich nicht.

 

Der Fund eines echten menschlichen Skelettes hatte sie aber mächtig beeindruckt. Mehr als sie den Erwachsenen gegenüber zugab. So wusste auch keiner, dass sie jede Nacht deshalb aufwachte, dass sie von ihrem früheren Lieblingspony Lisa  nur noch als Pferdeskelett träumte. Alles schrecklich! Jede Nacht. Sie erzählte es nicht mal ihrer Schulfreundin Moni. Letztlich hatte Polly sogar Angst einzuschlafen, weil sie das Pferdeskelett nicht mehr sehen wollte.

 

In den Reitstall wollte sie aber unbedingt, weil die Ponys ja nichts dafür konnten, was den Menschen so passierte. Pollys kleine Reitschülerin Cilly wusste gar nichts von dem grausamen Fund in der alten Scheune. Sie war noch zu klein. Cilly  wartete jeden Tag darauf, dass Polly sich um sie kümmerte. Zu Recht, fand Polly. Außerdem hatte sie sich auch schnell an das regelmäßig verdiente Geld gewöhnt.

 

Das schwierige Pony, Star, das nun bald in den Schulbetrieb übernommen werden sollte, durfte nicht vernachlässigt werden. Polly hielt es auch hier für ihre Pflicht, ihre Arbeit gut zu machen. Sie war mittlerweile ein großes Stück weiter gekommen.

 

Gestern hatte sie einen ersten Test gemacht. Sie hatte vorher mit dem Reitlehrer abgesprochen, was sie vorhatte. Dann bat sie ihre Freundin Anne,  Star in die Reitbahn zu führen und dort zu reiten. Sie selbst stand dabei an der Bande und beobachtete nur, was passierte.

 

Anne wusste um das Problem mit diesem Pferdchen. Jeder wusste es. Das Pony hatte Angst vor dem Gebiss im Maul und fürchtete sich, dass der Reiter die Zügel zu heftig anzog. Alles lag anscheinend in der Vergangenheit, Angst vor Schmerzen, die man ihm so früher zugefügt hatte.

 

Da Anne Star aber nicht so gut kannte wie Polly, konnte sie die Anzeichen nicht erkennen, wenn Star kurz davor war, sich zu verweigern. Polly hatte immer schon vorher im Gefühl, wenn sie an den Zügeln zu doll zog. Aber sie wollte ganz bewusst das Pferdchen daran gewöhnen. Es sollte merken, dass nicht jede Berührung zu Schmerzen führte.

 

Auf jeden Fall hatte Star den Test mit der ungewohnten Reiterin gut bestanden. Nur einmal hat er kurz abgebremst, wobei Anne fast vornüber runtergefallen wäre. Aber es ging noch einmal gut.

 

Dennoch sagte Polly dem Reitlehrer van Hopps nichts vom Ergebnis dieses Testes. Sie wollte ihre Arbeit nicht als erfolgreich abschließen und damit die Möglichkeit aufgeben, umsonst reiten zu dürfen. Sie wollte noch ein bisschen Zeit mit Star verbringen.

 

Seit dem Leichenfund – oder vielmehr Skelettfund – fiel es Polly allerdings sehr schwer, sich zu konzentrieren. Ihr war es seitdem ein paar Mal passiert, dass sie unbewusst die Zügel einfach aufgenommen hatte, ohne daran zu denken, dass sie auf Star saß. Der legte sofort den Rückwärtsgang ein. Polly ärgerte sich dabei am meisten über sich selber, weil es so unnötig war, dass sie damit erneut das alte Problem heraufbeschwor. Auf der anderen Seite, sie musste ja üben, dass Star so etwas aushielt, damit er von vielen verschiedenen Kindern im Schulbetrieb geritten werden konnte. Mit diesen Gedanken rechtfertigte sie vor sich selber, dass sie den Ausgang des Testes erstmal verschwieg.

 

Die Arbeit mit Cilly und Browny war einfacher für Polly. Ihre kleine Schülerin plapperte fast die ganze Zeit, und Polly sah es als ihre Aufgabe an, auf das kleine Mädchen einzugehen. Sie war gezwungen, dem Geplapper zuzuhören und entsprechend zu antworten.  Damit war sie von allen düsteren Gedanken abgelenkt. Sie wollte ihre Arbeit gut machen. Es war ihr wichtig, dass sie nicht nur einfach das Geld einstrich fürs Nichtstun. Sie gab sich größte Mühe, dem kleinen Mädchen einen guten Sitz auf dem Pony nahezubringen. „Nur durch einen korrekten Sitz, kann man korrekte Hilfen geben“, sagte sie immer wieder und wiederholte damit einen Standardsatz vom Hilfsreitlehrer Joachim, mit dem er die älteren Kinder dauernd nervte.

 

Pollys Freunde, ihre Clique, hatten sie immer wieder nach dem Ereignis gefragt. Jeder wollte ganz genau hören, wie Martine und sie die Plane von dem rostigen Hänger gezogen hatten und Knochen heruntergefallen waren. Ganz spannend fanden es ihre Freunde, wenn sie von den Knochen erzählte. Immer wieder musste sie den Moment beschreiben, als ihr klar wurde, dass es sich um echte menschliche Knochen handelte.

 

Den Moment hatte es eigentlich gar nicht gegeben. Polly konnte sich jedenfalls nicht daran erinnern. Es kam erst nach und nach, dass Martine und sie erkannten, dass es kein Holz war, das sie in der Hand hielten. Erst die Entdeckung des Totenkopfes ließ keinen Zweifel mehr, dass es sich um einen Menschen gehandelt haben musste.

 

An den folgenden Tagen nach dem Fund und an den immer wiederkehrenden Befragungen von Polizeibeamten entstand bei Polly das Bild, wie ein menschliches Wesen, Mann oder eine Frau,  zu so einem Haufen Knochen werden konnte. Es blieb nichts mehr von einem übrig, stellte sie fest. Dabei kamen ihr so schreckliche Gedanken, dass Menschen, die sie kannte, letztendlich sie selbst sogar, eines Tages so enden würden. Nie sprach sie aber laut darüber. Auch nicht mit ihren Eltern.

 

Jeden Tag kam Anton nun zu ihr, Vor allem, wenn sie gerade alleine war, bei den Ponys oder beim Satteln. Er war sehr nett. Auffallend nett. Immer betonte er, dass sie ja die besten Freunde wären und er würde Polly so bewundern, weil sie so eine gute Reiterin sei. Einmal legte er ihr sogar den Arm um die Schultern. Dabei fragte er so nebenbei auch wieder nach dem Skelett.

 

Polly hätte viel lieber über etwas Schöneres mit Anton geredet. Sein Verhalten kam ihr komisch vor. Dass er mit ihr immer nur über den oder die  Tote sprechen wollte, gefiel ihr nicht. Bisher hatte er sich nie besonders um Polly gekümmert. Seine Aufmerksamkeit schmeichelte ihr zwar, verwirrte sie aber auch. Sie konnte Antons Verhalten nicht richtig einordnen.

 

Vergangene Nacht gab sie sich alle Mühe, nicht einzuschlafen. Dann aber schreckte sie doch wieder hoch. Dieses Mal hatte sie auch von Anton geträumt. Der hatte im Traum von ihr verlangt, Knochen aufzusammeln und in einen großen Sack zu werfen. Sie wollte nicht. Sie griff nicht nach dem Sack, hielt ihre Arme auf dem Rücken verschränkt. Tränen flossen ihr über die Wangen und Anton redete auf sie ein wie blöd und hielt ihr den braunen Sack hin. Sie schrie…

 

Da war Mama bei ihr und weckte sie auf. Sie redete beruhigend auf Polly ein. Nichts sei passiert, nichts müsse sie tun, alles wäre nur ein böser Traum gewesen. Anton konnte sie also zu nichts zwingen. Mama war bei ihr. Alles war in Ordnung. Polly musste nun alles über ihre Träume erzählen, alles kam heraus.

 

Am Morgen verkündete Mama dann, dass sie für Polly einen Termin gemacht habe. Polly würde professionelle Hilfe bekommen, um die bösen Träume verschwinden zu lassen. Heute sei das kein Problem mehr, sagte Mama. Nach ein paar Behandlungen hätte Polly sicherlich  nur noch schöne Träume von ihren geliebten Ponys wie früher.

 

Zuerst schämte Polly sich, dass sie zu diesem Spezialisten gehen sollte. Er war ihren Eltern von der Kripo empfohlen worden. Betreuungen dieser Art waren bei denen offensichtlich normal. Polly brauchte an diesem Morgen also nicht in die Schule zu gehen. Sie hatte den Termin um elf Uhr.

 

Der Arzt war sehr nett. Er hielt sich gar nicht lange an Pollys schrecklichen Träumen auf, sondern ermunterte sie, an die schönen kommenden Frühlings- und Sommertage zu denken. Er wollte ihre Pläne für die Sommerferien erfahren. Dann forderte er sie auf, sich an die Vorgärten, entlang ihres Schulweges, zu erinnern. Sie solle einmal davon erzählen, wie die jungen Triebe an Bäumen und Büschen, wie die ersten Blüten der Frühjahrsblüher ausschauen. Er fragte nach, ob Polly diese Vorboten der schönen Jahreszeit überhaupt schon gesehen hätte.

 

Es machte Polly Spaß, seine Fragen zu beantworten. Denn sie sah viel. Mehr als die Meisten ihrer Freundinnen. Sie beobachtete die Pflänzchen und Blättchen. Aber noch mehr wusste sie über Tiere zu berichten, an denen sie Freude hatte auf ihrem Schulweg. Lachend erzählte sie sogar, dass sie einmal zu spät in die Schule kam, weil sie ganz viele Pferde auf einer Weide gezählt hatte und sich von ihnen gar  nicht mehr lösen konnte.

 

Der nette Arzt riet ihr am Ende der Sitzung, sie solle sich angewöhnen, jeden Abend vor dem Einschlafen sich vorzustellen, wie diese schönen Dinge sich bis zum Sommer weiterhin entwickeln würden und wie sie im Hochsommer ausschauen würden. Wie die Blüten voll entwickelt und vielleicht schon Fohlen auf den Weiden herumspringen würden.

 

Polly nahm sich fest vor, den Rat des Psychiaters anzunehmen. Die Sitzung war gar nicht so schlimm gewesen, Aber in der Schule würde sie nichts davon sagen. Das stand für sie fest.

 

(Fortsetzung folgt…)

 

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