Der Traum eines kleinen Mädchens...(141) Drucken
Geschrieben von: Uta Ludwig   
Mittwoch, 05. September 2012 um 19:28

Warum reitet man...

 

 

Polly genoss das Gefühl, selbst entscheiden zu können, was sie mit dem eigenen Pferd machte oder eben nicht. Es kam doch tatsächlich vor, jedenfalls am vergangenen Samstag, dass sie keine Lust hatte zu reiten. Es war das absolut erste Mal. Bisher konnte sie sich gar nicht vorstellen, einmal keine Lust aufs Reiten zu haben. Nun war es tatsächlich passiert. Keine Lust zu reiten!

 

Es war ihr aber völlig klar, dass sie etwas mit ihrer Beauty unternehmen musste. Das Tier sollte doch nicht vierundzwanzig Stunden in seiner Box gefangen sein. Polly dachte nach. Sie hätte Beauty ja longieren können. Das hieße: putzen, bandagieren oder Gamaschen anlegen, Bauchgurt mit Ausbindern oder Dreieckszügel umschnallen und die Trense aufziehen, wobei die Zügel um den Hals gelegt und mit dem Kehlriemen der Trense fixiert werden müsse. Bei diesem Aufwand hätte sie auch gleich satteln können. Und gerade dazu hatte sie eben keine Lust.

 

Die Reitbahn war besetzt. Einige Kollegen ritten dort. Also kam ein Frei-Laufen-Lassen nicht in Frage. Die vorhandenen Paddocks waren zu klein, dann könnte Beauty gleich in  ihrer Box bleiben. Polly überlegte hin oder her, was sie mit ihrem Pferd tun sollte, damit es wenigstens etwas Bewegung und Abwechslung hätte.

 

Schließlich entschloss sie sich, Beauty einfach an den Strick zu nehmen und auszuführen. Sie wollte entlang der Reitanlage den Weg gehen, der an dem verwunschenen Garten der etwas unheimlichen Nachbarin mit den Isländern vorbeiführte. Dort gab es genug Gras, links und rechts des Weges am Feldrand, von dem Beauty naschen konnte. Das war Pollys Programm für diesen Samstag gewesen.

 

Sie schenkte sich das Putzen und kratzte nur die Hufe aus. Zum Ausführen holte sie sich den leuchtend roten Führstrick aus ihrem Spind und hakte ihn an der Unterseite des Halfters ein. Polly hatte zwar eine Reithose an, aber sonst hat sie auf Reitstiefel und sonstige Ausstattung verzichtet. Sie marschierte in Sneakers los mit Beauty am Strick.

 

Gerade, als sie die Auffahrt des Reitstalles entlang lief, bog Hansi auf seinem neuen Mofa um die Ecke. Beauty sprang zur Seite. Sie hatte sich vor dem Geknatter fürchterlich erschrocken. Polly konnte gerade noch das Ende des Strickes festhalten.

 

Joachim, der das Geschehen zufällig vom Stall aus beobachtet hatte, brüllte Polly wütend an: „Was machst Du denn da für einen Blödsinn? Komm` sofort zurück.“ Polly blieb nichts anderes übrig als umzukehren. Sie erwartete ein Donnerwetter.

 

„Führen und longieren grundsätzlich nur mit Handschuhen“, fing Joachim an mit seiner wütenden Ansprache. Dann schnauzte er, dass Polly nicht in der Lage wäre, ihr Pferd nur am Strick festzuhalten. Das sei viel zu gefährlich. „Was meinst Du, wenn die Stute ernsthaft durchgehen würde? Meinst Du, Du könntest sie halten?“ schimpfte er weiter. Dann verschwand er mit der Aufforderung an Polly, dass sie an Ort und Stelle warten sollte.

 

Joachim kam zurück mit einem anderen Führstrick. „Das ist ein Hengst-Führstrick“, sagte er und zeigte auf die mit dem Strick verbundene Metallkette, an dessen Ende der Befestigungshaken war. Er zog die Kette durch den linken Ring des Halfters, legte die Kette der Beauty über die Nase und befestigte sie dann auf der anderen Seite des Halfters an dem Ring. Die Kette war nun so an dem Halfter befestigt, dass sie dem Pferd auf  den unteren Gesichtsknochen drückte, wenn man sie anzog.

 

Polly beobachtete das skeptisch. „Das tut meinem Pferd weh“, protestierte sie. „Aber, dann hast Du wenigstens Gewalt über Dein Pferd“, entgegnete der junge Reitlehrer und übergab Polly den Strick. „Ich muss noch meine Handschuhe holen“, sagte sie kleinlaut und ließ Joachim einfach stehen.

 

Als sie erneut die Auffahrt entlang ging, merkte sie schon, dass Beauty empfindlicher reagierte. Joachim hatte – wie immer – Recht. Das war der Grund, warum Polly so viel Respekt vor ihm hatte. Auch wenn seine Brüllerei noch so uncool war.

 

Auf dem Feldweg machte Polly immer wieder einen Stop, um Beauty ein Maul voll Gras abrupfen zu lassen. Langsam näherte sie sich dem geheimnisvollen Grundstück der Nachbarin. Auf der daneben liegenden Koppel wurden die beiden Isländer munter, als sie Beauty kommen sahen. Sie trabten an den Zaun heran, um Beauty zu begrüßen. Polly war froh, Handschuhe zu tragen. Trotz Kette hatte sie ziemlich Mühe, Beauty zu halten, die zu den anderen Pferden drängte. Sie schnaubte aufgeregt und zog heftig am Strick.

 

Polly war nun dankbar für Joachims Rat. Sie musste mächtig an dem Strick ziehen, um Beauty weiterzuführen. Schließlich kamen sie an den Zaun, hinter dem der verwunschene Garten lag. Polly hörte etwas rascheln. Wieder schnaubte Beauty, und Polly nahm den Führstrick zur Sicherheit in beide Hände. Die Nachbarin erschien am Gartentörchen.

 

„Hallo! Was hast Du für ein schönes Pferd“, sprach sie Polly freundlich an. Stolz erwiderte die: „Das ist meines, und es heißt Beauty und ist ein Tinker.“ „Das sieht man“, bestätigte die Nachbarin.

 

Ihre Hunde näherten sich auch dem Törchen. Polly hielt den Strick ganz fest. Aber Beauty hatte sich schon wieder dem Gras zugewandt. Sie kaute zufrieden vor sich hin. Einer der Hunde hatte sich neben sein Frauchen gelegt. Es schien, als höre er den beiden Damen zu. Polly und die Nachbarin schwatzten miteinander, wobei die eine auf der einen Seite, die andere auf der anderen Seite des Gartentörchens stehen blieb.

 

Die Nachbarin erblickte die Kette über Beautys Nase. Sie ließ sich erklären, wozu die gut war. Misstrauisch hörte sie Polly zu. Sie musste zugeben, dass es kaum möglich sei, dass Polly im Ernstfall Beauty würde nur mit einem normalen Strick halten können. Mit Kette war das Ausführen ihres Pferdes für Polly sicherer.

 

Weil Beauty so zufrieden graste, konnten die beiden Damen sich in Ruhe weiter unterhalten. Polly erzählte von ihren großen Träumen, einmal eine gute Reiterin zu werden. Sie erzählte von der neuen Trainerstunde, an der sie teilnehmen durfte und was sie sich davon verhoffte.

 

Plötzlich stellte die Nachbarin die Frage, ob es moralisch überhaupt richtig sei, von einem Pferd zu verlangen, Lektionen zu verlangen. Ob der Mensch  überhaupt von einem Tier etwas verlangen dürfte, was es vielleicht von alleine nicht tun würde. Polly erschrak. Diese spezielle Frage hatte sie sich selber noch nie gestellt. Ehrlich gesagt, hatte sie den Sinn einer Ausbildung des Pferdes immer verdrängt. Zu toll war das Reiten und zu imponierend das Können der großen Reiter. Wie schzön sahen die Olympia-Reiter auf ihren eleganten Pferden aus… Das machte doch Spaß! Doch – dem Pferd auch? Polly schluckte.

 

Die Nachbarin wies Polly daraufhin, wie viel Mühe und Arbeit, manchmal Härte, es benötigte, um ein Pferd das zu zeigen, was der Reiter wolle. „Will ein Pferd denn seinen Hals herunternehmen und am Zügel gehen?“ fragte sie Polly. Das Mädchen wusste nichts darauf zu antworten. Zu überraschend kamen die Fragen. Sie hatte sich nie mit dem Thema auseinander gesetzt.

 

„Mit welchem Recht verlangt der Mensch etwas von einem Tier?“ fragte die  Nachbarin nun allgemein. Sie meinte Polly schon lang nicht mehr, sondern war dazu übergegangen, die Ausbildung von Tieren im allgemeinen in Frage zu stellen. „Ist es richtig, dass der Mensch sich auf ein Pferd draufsetzt und die Richtung bestimmt?“ fragte sie noch. Polly war in dem Moment völlig überfordert. Die Fragen taten ihr sogar irgendwie weh.

 

Dabei meinte die Nachbarin es gar nicht aggressiv. Sie betrachtete die Arbeit mit unseren Mitlebewesen eher philosophisch. Das war Polly schon klar. Aber sie fühlte sich dennoch angegriffen. Sie schwang sich ja jeden Tag aufs Pferd und verlangte von dem Tier Gehorsam.  Warum eigentlich? Nur weil sie – Polly – daran Spaß hatte?

 

Die Damen standen sich schweigend auf beiden Seiten des Zaunes gegenüber und machten sich ihre Gedanken. Zuerst dachte Polly „Warm eigentlich? Was will die Frau eigentlich?“ Dann kam sie aber doch noch auf das eine oder andere Argument, was für die Arbeit mit Tieren sprach. Zugegebenermaßen fand sie mehr Argumente für das Arbeiten mit Hunden. Sie führte natürlich Rettungshunde an, womit sie sich sogleich die Zustimmung der Nachbarin sichern konnte. Diese war es dann sogar, die Polly das Ausbilden und Arbeiten mit Pferden rechtfertigte. Sie erklärte, wie in früheren Zeiten, lange bevor es Autos gab, der Mensch auf Pferde angewiesen war, um schneller von einem Ort zu anderen zu gelangen. Dann wies sie auch noch darauf hin, dass Pferde größere Lasten  tragen konnten als der Mensch. Und dann die Kriege… Ohne Pferde nicht vorstellbar. Übrigens sei daraus die Dressur entstanden, erklärte die Nachbarin der erstaunten Polly.

 

Polly hörte gut zu. Die Nachbarin lachte nun wieder fröhlich. Der Ernst der Diskussion über Sinn und Zweck der modernen Reiterei war verflogen. Polly atmete erleichtert auf. Zu schwierig das Thema. Dann stellte sie kess fest: „Ich habe auch keine Lust, in die Schule zu gehen und ich muss!“ Nun lachten beide und der Hund sprang auf und fiel kläffend ins Gelächter der beiden „Philosophen“ ein.

 

(Fortsetzung folgt…)

 

 

 

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