Der Traum eines kleinen Mädchens...(147) Drucken
Geschrieben von: Uta Ludwig   
Mittwoch, 24. Oktober 2012 um 13:47

 

Wieder eine Leiche gefunden...

 

 

Der Reitstall war Pollys Lebensmittelpunkt. Hier befand sich ihr Pferd Beauty, zu dem sie jeden Tag ging. Sie liebte den Umgang mit den Pferden. Und immer noch schlug ihr Herz auch für die Ponys des Reitstalles. Auf ihnen hatte sie ihre ersten Reitstunden erlebt. Das war nun sechs Jahre her.

 

Seit sie ihr erstes eigenes Pferd besaß, nämlich seit den Sommerferien, wurde aus dem unbeschwerten Reitvergnügen irgendwie Ernst. Sie nahm an den Turnierstunden teil, sie lernte Dressurreiten. Ihr Ehrgeiz, eine große Turnierreiterin zu werden, hatte sich noch nicht verflüchtigt.

 

Dennoch musste Polly zugeben, dass sie die Verantwortung für ein Reitpferd unterschätzt hatte. Jeden Tag in den Reitstall zu gehen und damit auf den Freizeit-Kontakt zu ihren Klassenkameraden zu verzichten, nicht einfach irgendwo abzuhängen,  war für sie eher Freude als Verpflichtung. Es waren die „normalen Dinge“, die einiges für sie forderten. So musste Polly ganz alleine entscheiden, wann der Schmied Beautys Hufe schneiden musste. Woher sollte Polly das wissen?

 

Es gab eine Tafel, auf die man sein Pferd eintrug, wenn der Schmied nächste Woche kommen würde und es ausschneiden oder beschlagen sollte. Er kam jede Woche einmal.

 

Polly ließ sich von Joachim beraten. Er wusste, wann es Zeit war, dass Beautys Hufe gekürzt wurden. In dem weichen Hallenboden liefen sie sich nicht so schnell ab. Der Schmied musste nur ungefähr alle sechs Wochen zu Beauty kommen.

 

Weitere Entscheidungen musste Polly treffen. Beauty als Tinker war von Natur aus ziemlich dick. Außerdem war die Stute verfressen und knabberte ständig am Stroh herum. Deswegen stellte sich die Frage, ob sie besser auf Späne gestellt werden sollte. Das würde aber viel mehr kosten. Sicherlich würden Pollys Eltern wieder Theater machen, wegen des Geldes. Sie kannte das Spiel schon. Eigentlich war sie selber gegen Späne. Stroh schien ihr angenehmer für ihr Pferd. Also würde sie erstmal abwarten, ob Beauty nicht so bleiben würde wie sie bisher war.

 

Dann gehörte es zu Pollys Verantwortung zu entscheiden, würde sie reiten oder nur longieren, oder würde sie einmal einen „Stehtag“ einlegen. Meistens entschied sie sich dann doch fürs Reiten.

 

Im großen Ganzen genoss sie es schon, für alles selber verantwortlich zu sein. Es machte sie erwachsener, fand sie. Ihre Eltern mischten sich kaum ein. Deswegen gehörte sie immer zu den Pferdeeigentümern, wenn mal in der Stallgemeinschaft etwas zu besprechen galt.

 

So eine Versammlung fand letzte Woche statt. Anlass war die handfeste Auseinandersetzung zwischen Herrn Neureich und dem Trainer Willi Weber. Polly war dabei gewesen, als Herr Neureich den Trainer zu Boden schlug.

 

Es wurde auf der Versammlung heftig diskutiert. Es ging um das Abgeben von lauten Kommentaren von der Bande aus während der Trainerstunden. Herr Weber, der für die Turnier-Abteilungen extra in den Reitstall kam, verlangte, dass sich gar niemand während seiner Stunden an der Bande aufhalten sollte. Er wollte in Ruhe mit den Reitern arbeiten. Herr Neureich dagegen verlangte, bei den Unterrichtsstunden seiner Töchter, vor allem jenen mit Brigitta auf dem super teuren Dressurpferd, ganz nahe dabei sein zu können. Es sei schließlich sein gutes Recht, die Ausbildung seiner Tochter und ihrem Pferd zu überwachen. Fast kam es wieder zu Handgreiflichkeiten. Schließlich, nach vielem Hin und Her mit Geschrei und vielen Schuldzuweisungen, einigte man sich darauf, dass sich Zuschauer an der Bande aufhalten und zusehen durften. Aber ohne jeden Kommentar. Ohne Zwischenruf,  und irgendein Protest dürfe gar nicht erfolgen. Falls jemand etwas anzumerken hätte, sollte das nach der Reitstunde erfolgen und möglicherweise ausdiskutiert werden.

 

Polly hatte es zwar mitbekommen, die meisten anderen nicht: Herr Weber sagte mehr zu sich selbst, er lehne jede Diskussion seiner Reitstunden ab. Er würde dann schon wieder fortgefahren sein. Solle diskutieren, wer will !

 

Polly hielt den Mund. Sie gab den geflüsterten Kommentar nicht wieder. Ihr war es sehr Recht, dass Herr Neureich  nicht mehr dazwischen rufen durfte. Der hatte dadurch schon immer gestört.

 

Hauptsache, Herr Weber setzte seine Trainerstunden fort. Nach dem Vorfall hatte er Knall auf Fall gekündigt. Die Aufregung war groß. Vor allem Polly und ihre Freunde, für die diese Dressurstunden ja gerade erst angefangen hatten, befürchteten, von nun ab ganz alleine, ohne Trainer, reiten zu müssen. Es wurde hin und her überlegt, wer solche Turnier-Vorbereitungen abhalten könnte. Joachim kam als Einziger in Frage. Aber der war voll berufstätig und konnte nicht so früh in den Stall kommen. Damit hatte sich die einzige Alternative zerschlagen.

 

Herr van Hopps, der für die Schulstunden zuständig war, wurde ausgeguckt, Herrn Weber anzurufen und ganz kleine Brötchen zu backen. Er musste Herrn Weber auf Knien bitten, wieder die Trainerstunden für die Jugendlichen und die Turnierreiter aufzunehmen. Der aber bestand auf einer öffentlichen Entschuldigung von Herrn Neureich. Im Übrigen ziehe er eine Anzeige in Erwägung. Verdient hätte es der unbeherrschte Herr Neureich, dachte Polly.

 

Während Polly heute ihr Pferd für die Stunde fertigmachte, hatte sie diesen ganzen Vorfall noch einmal überdacht. Die Erwachsenen sind kein bisschen anders als die Jugendlichen. Sie verhalten sich genauso zickig. Es hatte Polly voll peinlich berührt, zu sehen wie der eine Erwachsene den anderen schlägt. Wie kleine Jungs!

 

So war sie heilfroh, Herrn Weber heute hier zu sehen. Der tat so, als wäre nie etwas geschehen. Brigitta auf ihrer Rapp-Stute war auffallend zurückhaltend. Es war offensichtlich, dass sie sich für das Verhalten ihres Vaters letzte Woche schämte.  Selbst, als der Trainer Carl-Alfred mit dessen heißer Stute an die Tete setzte, protestierte sie nicht. Kleinlaut hängte sie sich hinten an die Abteilung dran. Polly mit Beauty waren Vorletzte. Das edle Dressurpferd musste hinter dem Tinker laufen. Polly grinste.

 

Heute ließ der Trainer „Halten“ üben. Es ging darum, korrekte Paraden zu reiten und das Pferd ruhig stehen zu lassen. Es sollte so geschlossen stehen, das von jeder Seite nur zwei Beine zu sehen waren. Also die beiden Vorderbeine und die beiden Hinterbeine jeweils ganz genau parallel standen. Zusätzlich sollten die Reiter darauf achten, dass die beiden Hinterbeine der Pferde nicht nach hinten heraus, sondern „unter dem Schwerpunkt“, also ziemlich unter dem Reiter standen.

 

Eine schwierige Aufgabe. Nicht alle Reiter schafften es, ihre Pferde ungefähr fünf Schritte nach dem Kommando zum Stehen zu bringen. Dadurch ritten einige von ihnen ihren Vorderpferden auf. Es entstand ein ziemliches Durcheinander. Herr Weber ließ die Abteilung aufmarschieren. Somit sollten die Reiter nebeneinander halten. Das klappte fast nie, wegen dieser Probleme. Herr Weber ließ mindestens zehn Mal von der rechten Hand und von der linken Hand aufmarschieren. „Bei X durchparieren zum Halten“, kommandierte er immer wieder. Es war schwierig, dass alle in einer Linie nebeneinander zum Halten kamen. Pferdenüstern alle in gleicher Höhe nebeneinander. Irgendeiner stand immer zu weit vorne oder blieb zurück.

 

Schließlich parierten die Pferde schon von alleine bei X durch oder wurden wenigstens langsamer. Also ließ Herr Weber sie bis G vorreiten und dann erst halten.

 

Während alle eifrig konzentriert das Durchparieren übten, erschienen zwei bekannte Gesichter an der Bande. Zuerst hatte Polly sie gar nicht wahr genommen. Dann bemerkte sie die beiden Herren. Es waren die Polizisten, die für den Leichenfund in der alten Scheune des Stalles zuständig waren. Polly wunderte sich, die hier nach so vielen Monaten wiederzusehen,

 

Später stellte sich heraus, dass sie tatsächlich dienstlich in den Reitstall gekommen waren. Allerdings hatten sie noch immer nicht herausgefunden, um wen es sich bei der Leiche handelte. Aber es war eine weitere Leiche gefunden worden. Im Stadtwald und diese Leiche wies nach einem vorläufigen Schnelltest fast die gleiche DNA-Merkmale auf, wie die „Reitstall-Leiche“. Es müsste sich um Brüder handeln, die beide schon sehr viele Jahre tot seien. Um wen es sich aber handelte, wusste niemand. In der Kartei der Behörden waren sie nicht zu finden. Aber diese Identifikations-Methode gab es ja auch erst seit den achtziger Jahren.

 

Polly fand das alles riesig spannend. Sie hatte sich ganz still zwischen die Erwachsenen gedrängt, um nur ja alles mitzubekommen, was die Beamten zu erzählen hatten. Der neue Leichenfund geschah erst an diesem Morgen. Er war nur knapp einen Kilometer vom Reitstall entfernt. Ob es sich um zwei Gewaltverbrechen handelte, musste die Obduktion erst ergeben und ob das alles in einem Zusammenhang mit dem Reitstall stand, wollte die Polizei herausfinden. An diesem Abend jedenfalls suchten sie den Reitstall-Eigentümer, Herrn Lichtenhügel, der Auskunft darüber geben sollte, wie er an den Reitstall gekommen war, von wem er ihn gekauft hatte und was vorher auf diesem Hof geschehen war. Was war früher hier auf diesem Hof gewesen, was war hier vor sich gegangen?

 

Polly ärgerte sich darüber, dass sie dieser Befragung nicht beiwohnen konnte. Herr Lichtenhügel zog sich mit den beiden Kriminalbeamten in das sogenannten Büro zurück und ließ dort sogar die Vorhänge herunter, so dass von außen nur kleine Lichtritzen zu sehen waren.

 

Die heiße Diskussion über die nunmehr zwei Toten entflammte erneut. Es wurde wild spekuliert. Die Jugendlichen beteiligten sich daran. Harald Lichtenhügel versprach, von seinem Vater alles zu erfahren und es morgen den Freunden zu erzählen.

 

An diesem Abend hatte Polly sich mit dem Abpflegen ihres Pferdes nach dem Training sehr beeilt. Möge Beauty es ihr nicht übelnehmen. Aber wenn es ein Mensch wäre, würde sie die Neugierde verstehen. Da war sich Polly sicher. Hauptsache Herr Weber kam nächste Woche wieder.

 

(Fortsetzung folgt…)

 

 

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