Ludwig Guttmann - der fast vergessene deutsche Begründer der Paralympics Drucken
Geschrieben von: Norbert Müller/ DOSB-Press/DL   
Freitag, 16. September 2016 um 16:34

Frankfurt/ Main. Die Paralympics gewinnen immer mehr an Bedeutung. Doch den Erfinder, nämlich den deutschen Arzt Dr. Ludwig Guttmann, kennt kaum jemand.

 

Seit Seoul 1988 werden die Paralympics im Anschluss an die Olympischen Spiele am gleichen Ort und den gleichen  Wettkampfstätten durchgeführt. Olympiaausrichter sind verpflichtet, auch die Paralympics in ihr Programm einzubeziehen, so will es der Vertrag zwischen dem IOC und dem International Paralympic Committee (IPC) mit Sitz in Bonn. Ob es berechtigt erscheint, seit London 2012 von gemeinsamen olympischen und paralympischen Erziehungsgrundsätzen zu sprechen, muss die weitere Entwicklung und inhaltliche Diskussion noch zeigen.

 

Doch wer weiß schon, dass die Paralympics auf den deutschen jüdischen Arzt Dr. Ludwig Guttmann (1899-1980) zurückgehen, der 1939 mit seiner Familie nach England emigrierte und in Stoke Mandeville (60 km nordwestlich von London) während des Zweiten Weltkrieges am dortigen Hospital die Abteilung für Querschnittsgelähmte aufbaute, um den vielen Kriegsinvaliden der britischen Armee eine damals noch nicht gesicherte Überlebenschance zu geben.

 

Guttmann war an der Universitätsklinik in Breslau bereits Mitte der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts ein herausragender Pionier auf diesem Gebiet, man kann ihn auch als Mitbegründer der Neurochirurgie in Deutschland bezeichnen. Das hatten sogar die Nazis verstanden und Guttmann wie allen jüdischen Hochschullehrern im Deutschen Reich 1933 zwar die Lehrbefugnis an der Universität Breslau entzogen, ihn aber als wissenschaftliche Kapazität am jüdischen Krankenhaus in Breslau geduldet. Noch 1936 durfte Guttmann ein Handbuch seiner neurochirurgischen Erkenntnisse von 500 Seiten im renommierten Berliner Wissenschaftsverlag Julius Springer veröffentlichen und auf Kongressen im Ausland die Fachkollegen beeindrucken.

 

Dass er noch im März 1939 nach England emigrieren konnte, hing mit seiner internationalen Reputation zusammen. Seine englischen Kollegen nahmen ihn gerne auf, und die Regierung  Großbritanniens erteilte die Einreise und übertrug ihm 1943 die Leitung der Abteilung für Rückgratverletzungen am Hospital in Stoke Mandeville für kriegsgeschädigte Soldaten. Guttmann hatte erkannt, dass Querschnittsgelähmte nur durch ständige körperliche Übungen eine Überlebenschance hatten. Dem Mediziner kam die grandiose Idee, am Eröffnungstag der Olympischen Spiele von London - am 29. Juli 1948 - im Park seines Hospitals die ersten „Stoke Mandeville Games für Gelähmte“ abzuhalten – die Urform der heutigen Paralympics. Diese Spiele sollten Farbe in den sonst eintönigen Klinikalltag bringen und eine körperliche Herausforderung und damit Vorbildwirkung für alle querschnittsgelähmten Patienten haben. Die ersten Wettkämpfe bestanden ausschließlich aus Bogenschießen mit zunächst nur 16 Teilnehmern. Aber der Anfang war gemacht.

 

Guttmann wiederholte die Wettkämpfe alljährlich in Stoke Mandeville, weitete diese jedoch auch auf andere Kliniken und Invalidensportgemeinschaften in ganz Großbritannien aus, die gegeneinander um einen nationalen Ehrenschild kämpften. 1949 waren es bereits sechs Teams im Rollstuhl-Netzball, was sich in den Folgejahren durch die verbesserten Rollstühle zu Rollstuhl-Basketball weiterentwickele, heute die bekannteste und beliebteste Sportart der Paralympics. Oft spielten die Invaliden gegen Mannschaften ihrer Ärzte, Schwestern und Physiotherapeuten, eine frühe Form von Inklusion.

1950 startete Guttmann auch „Internationale Stoke Mandeville Games“, womit seine Pioniertat  auch in Bezug auf die Internationalisierung des Leistungsvergleichs behinderter Menschen wesentlich erweitert und attraktiver wurde.

 

Diese Internationalen Stoke Mandeville Games wurden seit 1950 alljährlich durchgeführt, das Wettkampfprogramm systematisch ausgeweitet: Rollstuhl-Hockey und Rollstuhl-Polo – genauso wie Rollstuhl-Billiard– gehörten zum festen Programm dieser Spiele. 1960 gelang es Guttmann im Anschluss an die Olympischen Spiele von Rom, die ersten Weltspiele in der Ewigen Stadt durchzuführen, der eigentliche Geburtstag der Paralympics – jedoch noch beschränkt auf gelähmte Sportler und deren Wettkampfprogramm. Vier Jahre später 1964 übernahm die Olympiastadt Tokio diese Spiele; als weltweite Botschaft bauten die Japaner erstmals eigene Fabriken für den Einsatz behinderter Menschen in Erinnerung an diese Spiele. Als der Olympiaausrichter Mexiko sich 1968 nicht zur Durchführung der „Behindertenspiele“ in der Lage sah, übernahm Jerusalem die „III.Weltspiele für Gelähmte“, womit Ludwig Guttmann als Angehöriger der jüdischen Glaubensgemeinschaft eine besondere Ehre zuteil wurde.

 

Als 1972 anlässlich der Olympischen Spiele von  München die IV. Weltspiele der Gelähmten in Heidelberg stattfanden, war der internationale Durchbruch vollzogen. Der aus Schlesien stammende Arzt Dr. Ludwig Guttmann hatte einen Weltverband mit einer eigenen vierjährigen Behinderten-Olympiade endgültig ins Leben gerufen, die in Heidelberg bereits 1004 Sportler aus 41 Ländern in elf Sportarten mit 187 Einzelentscheidungen umfasste. Bundespräsident Heinemann ehrte Dr. Ludwig Guttmann bei der Eröffnungsfeier mit dem Großen Bundesverdienstkreuz. Heidelberg war sportlich und organisatorisch der bis dahin bedeutendste Höhepunkt – auch wenn Guttmann „seine“ Spiele lieber am Olympiaort München gefeiert hätte.

 

In Rio sind es - 44 Jahre später -  4350 Athletinnen und Athleten aus 160 Ländern, die in 23 Sportarten um 523 Gold-, Silber- und Bronzemedaillen kämpfen. Der Name „Paralympics“ und die ständige Austragung im Anschluss an die Olympischen Spiele wurden 1988 in Seoul (Südkorea) begonnen. Im Rahmen des IOC-Reformprozesses 1999 kam es zu einem Abkommen zwischen dem IOC und dem inzwischen unter dem Namen International Paralympic Committee  (IPC) gebildeten Zusammenschluss aller internationalen Sportverbände für Menschen mit unterschiedlichsten körperlichen Handicaps. Geistig behinderte Menschen sehen sich seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts bei den weltweiten Special Olympics stärker repräsentiert, die jedoch keine spitzensportlichen Ambitionen verfolgen. Die Diskussion um den gleichberechtigten Start des einseitig unterschenkelamputierten DLV- Weitsprungmeisters 2015 Markus Rehm, Fahnenträger bei der Eröffnung in Rio, bleibt aktuell; bisher gab es Olympiastarter mit körperlichen Handicaps nur im Bogenschießen und Segeln.

 

Wenn wir heute in internationale Datenbanken schauen, werden wir über den Paralympic-Vater Dr. Ludwig Guttmann, der 1980 verstarb und in Stoke Mandeville begraben ist, ausschließlich über sein Wirken in England informiert. Dies sicher auch mit guter Begründung durch die Stoke Mandeville Games seit 1948. Doch die Tatsache, dass Guttmann in Oberschlesien geboren wurde, in Freiburg im Breisgau Medizin studiert und promoviert hat, an der Breslauer Universität seit 1925 die Neurochirurgie mit aufbaute und sich aus seiner sozialmedizinischen Verantwortung, auch aus dem jüdischen Glauben heraus, den Querschnittsgelähmten als Arzt und Wissenschaftler mit großem Erfolg schon vor seiner Emigration widmete, blieb bisher unerforscht. Seine Aufnahme am 17.Mai 2014 in die „Hall of Fame des deutschen Sports“ wurde zu einer zwar späten, aber berechtigten Anerkennung seiner Leistung.

 

Dass seine in Schlesien verbliebenen Eltern und Geschwister von den Nazis 1942 in Theresienstadt und Auschwitz ermordet wurden, macht die Beschäftigung mit seinen 40 Lebensjahren in Oberschlesien selbst aus der großen zeitlichen Distanz nicht einfach. Dazu gehört auch die Tatsache, dass seine Wirkungsstätte als Arzt, nämlich Breslau, heute unter dem Namen Wroclaw zu Polen gehört. Umso wichtiger wird eine Guttmann-Forschung in den kommenden Jahren in Kooperation deutscher und polnischer Historiker und Judaisten sein, woran IPC-Präsident Craven nachhaltig interessiert ist.

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Der Autor, Seniorprofessor für Sportgeschichte an der TU Kaiserslautern, dankt Rafael Hoffmann, FG Sportwissenschaft der TU Kaiserslautern, für seine Archivarbeiten in der Welcome Library in London verbunden mit seiner MA Thesis beim Verfassen zu Ludwig Guttmanns Lebensleistung bis zur Emigration; Prof. Dr. Werner Kümmel, Medizinhistoriker an der Universität Mainz für seine fachkundige Beratung.

 

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