Das zweite Leben der Nadja R. Drucken
Geschrieben von: Dieter Ludwig   
Sonntag, 11. April 2010 um 20:12


Hürth.  Es geschah am 13. April 2003. Beim Jugend-Championat der Vielseitigkeitsreiter in Gahlen stürzt die damals 16 Jahre alte Nadja Remagen schwer, sie lag 15 Tage im Koma – heute reitet sie wieder und sagt: „Ich fühle mich fantastisch...“

 

Wie alles ablief, weiß sie immer noch nicht. Doch für die Eltern ist alles noch Gegenwart.  Auch nach sieben Jahren. Es war der 13. April 2003, Gahlen am Rande des Ruhrgebiets, Geländeprüfung, Vielseitigkeit der Klasse A für die Jugend. Dagmar und Frank Remagen standen genau 15 m entfernt von jenem Sprunge, der das Leben der gesamten Familie veränderte und beinahe aus der Bahn geworfen hätte. Ihre Tochter Nadja, damals 16,  kommt mit ihrem erfahrenen 16jährigen ungarischen Wallach Moric in guter Fahrt an, das Ziel schon fast vor Augen. Sie kennt ihren Sport, liebt "die Krone der Reiterei", wie sie sagt, geübt und auch entsprechend trainiert. Auch topp geschult bei Peter Bolten oder Edith Beine, erfahrenen Ausbildern.

 

Das fatale vorletzte Hindernis

 

Die vorletzte Hürde begrenzen oben Blumenkübel, keine fest verankerten Kästen wie in dieser Disziplin meist üblich, bewegliche,  vielleicht das Verhängnis, wie die Familie später glaubt. Der Wallach macht sich lang, touchiert die hölzernen Blumenkisten, überschlägt sich. Nadja Remagen knallt schwer mit dem Kopf auf dem ausgedörrten Boden auf. Dagmar Remagen schreit auf, Frank Remagen ist wie gelähmt. Die Mutter: "Ich dachte, Nadja sei tot, sie hatte die Augen offen, aus dem Mund lief Blut." Ein Arzt rief: "Nicht anfassen, lasst die Reiterin so liegen wie sie liegt." Dagmar Remagen: "Wahrscheinlich wurde so das Leben unserer Tochter gerettet." Der Vater: "Es war fast wie im Film, eine unglaubliche Ruhe herrschte um uns."

 

Nach eineinhalb Stunden des Wartens wird die verletzte Reiterin mit dem Hubschrauber in die Uni-Kliniken nach Essen geflogen. Die Schülerin liegt 15 Tage im Koma. Schädel-Hirn-Trauma. Die Eltern hängen Bilder im Krankenzimmer an die Wand, Fotos ihres Pferdes, Ablichtungen, die Nadja kennt, man wollte ihr beim Aufwachen helfen, sich zu erinnern. Sie wacht auf, aber reagiert nicht. Nach vier Wochen wird Nadja Remagen nach Köln-Merheim verlegt, sie spricht nicht, sechs Wochen kein Wort. Die Eltern sind verzweifelt. Dann kommt eine Hirnhautentzündung dazu. Die Remagens und engste Verwandten halten 24 Stunden Wache am Bett, der Stress dauert fünf Tag lang, ein Arzt sagt: "Die Chancen stehen 50 zu 50, innerhalb der fünf Tage entscheidet sich alles."

 

„Lieber Rollstuhl schieben – als zum Friedhof“

 

Frank Remagen: "In einer solchen Situation findet man wieder zurück in die Kirche, man lernt das Beten wieder." Und weiter sagt der Geschäftsmann, der wie seine Frau aus der Reiterei kommt und  "Köstlichkeiten aus Fleisch" aus eigener Fabrikation in Hürth anbietet, im Kölner Karneval als Präsident Sitzungen leitet, und das heißt was in der Domstadt: "Ich habe gebetet: Lieber Gott, lasse sie nicht sterben. Ich schiebe sie lieber 30 Jahre im Rollstuhl durchs Leben als dass ich 30 Jahre zum Friedhof laufe..."

 

Dann ruft eines Tages auch noch eine Schwester aus dem Krankenhaus an und sagt, sie hätte den Eindruck, Nadja habe sich aufgegeben, sie kämpfe nicht mehr. Sie fragt, ob man nicht irgend etwas hätte, an dem das Mädchen besonders hänge. Nadja lebe inzwischen in ihrer eigenen Welt, zu der niemand mehr Zugang finde.

 

Jack Russel Foxi im Krankenhaus

 

Die Eltern überlegen, kommen dann auf den Jack Russel „Foxi“. Obwohl Hunde und andere Tiere bekanntlich aus angeblich hygienischen Gründen in Krankenhäusern nicht unbedingt willkommen geheißen werden, "schmuggeln" sie den Hund in die Klinik. Nadja wird im Rollstuhl in den Park geschoben, Dagmar Remagen packt den Hund aus einer Decke und legt ihn in die Arme ihrer Tochter, und die beginnt zu weinen und zu lachen. Foxi ist der Passepartout zur Seele der traumatisierten Oberschülerin.

 

Nach dreieinhalb Monaten kommt Nadja Ende Juli nach Hause. Die Eltern übernahmen die Verantwortung. Sie sitzt im Rollstuhl. Eines Morgens sagt sie: "Was ist eigentlich mit Moric?" Der Wallach ist noch da, dabei hatten sich die Eltern schon entschieden, ihn über den Springreiter und Pferdehändler Holger Hetzel (Goch) nach Italien zu verkaufen -  wenn da nicht ein Mediziner in der Klinik gewesen wäre, der auch mit Reiten zu tun hatte und der sagte, um Gottes willen, nein, nicht weg mit dem Pferd, das Mädchen brauche das Tier, soll sie gesunden.

 

Nadja wird eines Morgens im Rollstuhl in den neben dem Wohnhaus gelegenen Stalltrakt geschoben, direkt in die Box von Moric. Der Wallach dreht sich "und legt seinen Kopf in meinen Schoß, als wollte er sagen, ich kann doch nichts dafür", erzählt sie. Weiter meint sie: "Wäre er nicht mehr da gewesen, hätte ich auch nie mehr reiten wollen."

 

Inzwischen Kosmetikerin

 

Sie ging bald wieder zur Schule und ritt auch unter Anleitung der erfahrenen Ausbilderin Heidi Bemelmans – Dressur. Sie wollte zunächst gleich wieder ins Gelände auf Moric, aber dagegen stemmten sich die Ärzte vehement und zurecht. Ein weiterer Sturz hätte endgültig das Leben gefährdet.

Infolge der Meningitis ist der Kanal, der das Gehirnwasser aus dem Kopf über einen Strang im Rückenmark in den Magen transportiert, verstopft. Deshalb musste ihr ein Shunt hinter dem Ohr gelegt werden, „der bleibt, solange ich lebe“, sagt sie. Über einen künstlichen Bypass wird nun die Flüssigkeit aus dem Kopf abgeleitet. Ein Sturz könnte jedoch das medizinische System lahmlegen, das wäre der Tod.

 

Nadja Remagen, inzwischen 22,  erlernte den Beruf einer Kosmetikerin. Sie durfte sich umschauen in ganz Europa, sie ist zufrieden, nein mehr, „mir geht es fantastisch, ich habe ein zweites Leben“, sagt sie. Reiten blieb das wichtigste Hobby der Familie. Sie selbst reitet inzwischen einen Friesenhengst, „aber keine Turniere mehr, ich reite nur noch zum Spaß.“

 

Moric, inzwischen 23, frisst sein Gnadenbrot bei Freunden, „Lebensretter“ Foxi war eines Tages verschwunden, „wir hörten nie mehr etwas von ihm.“ Dafür kam ein neuer Foxi ins Haus...l

 

 

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