Der Traum eines kleinen Mädchens...(115) |
Geschrieben von: Uta Ludwig |
Mittwoch, 08. Februar 2012 um 17:08 |
Ein Balken erschlägt ein Pony...
Polly und alle, die vergangene Woche den Unfall im Reitstall Hubertus erlebt hatten, waren traumatisiert. Gott sei Dank war Polly das einzige Kind zu dieser Zeit im Stall gewesen, weil es schon so spät war. Sie hatte auf ihren Vater warten müssen, der sie abholen sollte.
Eselchen Felix überlebte den Dachseinsturz - im Gegensatz zu... (Foto: U.Ludwig) Das Eselchen Felix hatte den Zusammenbruch des Daches mit einigen kleineren Verletzungen überlebt. Eines der beiden Ponys war auch mit nur ein paar Schrammen im Fell durchgekommen. Das andere Pony, das noch keinen Namen hatte, musste vom Tierarzt eingeschläfert werden.
Ihm war ein schwerer Holzbalken genau auf den Rücken gefallen. Es war dabei umgefallen und konnte von alleine nicht mehr aufstehen, weil der Balken nicht zu bewegen war. Es konnte nur noch den Kopf anheben und sah mit großen flehenden Augen die Menschen an. Die Helfer schafften es, erst nach und nach die Trümmerteile des Daches fortzuräumen und das Pony zu befreien. Aber es konnte nicht mehr aufstehen.
Pollys Vater war unterdessen eingetroffen. Um Polly den furchtbaren Anblick zu ersparen, führte er sie fort und fuhr sie nach Hause.
Am anderen Tag bestätigte sich dann Pollys Befürchtung. Dass aber das Eselchen und wenigstens ein Pony noch da waren, ließ sie erleichtert aufatmen.
Etwas ganz anderes aber hatte sie in der Nacht kein Auge zutun lassen. Sie wälzte sich von einer Seite auf die andere und wieder zurück. Das Bett war unbequem geworden. Die Kissen lagen nie richtig. Sie musste sich einfach wieder herum drehen. Das ging die ganze Nacht so. Sie meinte sogar, das Auto zu hören, das jeden Morgen gegen 5 Uhr die Zeitung brachte.
Dauernd kamen Bilder in ihr hoch. Sie sah die alte Schmiede, die Dachteile, die in sich zusammen gestürzt waren. Und gerade noch vorher stand sie selbst in der alten Schmiede, in der das Eselchen und die beiden neuen Ponys untergebracht waren. Sie hatte den Tieren Zückerchen gereicht. Sie hörte noch die seltsamen Geräusche als eine Art Vorwarnung. Polly hatte alles deutlich wahrgenommen. Aber sie konnte die Zeichen nicht einordnen, nicht erkennen, was sie zu bedeuten hatten. Jetzt aber packte sie die schlimme Gewissheit, dass sie einiges verhindern können, sie hätte nur einem Erwachsenen davon berichten müssen. Genau das aber hatte sie versäumt. Es war ihr nicht einmal gar nicht in den Sinn gekommen. Tiefe Traurigkeit überfiel sie.
Schuldgefühle plagten sie nun ständig. Tagsüber, in der Schule, fragte sie sich immer wieder nach dem Warum? Auf der Autofahrt in den Reitstall beschlich sie furchtbare Angst, dass sie jemand direkt ansprechen könnte, ob ihr vorher an der alten Schmiede nicht etwas aufgefallen wäre und warum sie nichts gesagt hätte.
Dann aber beruhigte sie sich selbst wieder. Es sei ja spät gewesen, sagte sie sich, und dass sie nur aus purer Langeweile in das alte Gebäude gegangen sei. Sie ging auch nicht davon aus, dass jemandem das Licht aufgefallen war, das sie angeknipst hatte. Ein Teil der Erwachsenen ritt bereits in der Halle, die anderen machten ihre Pferde fertig. Um 22 Uhr war sowieso Zapfenstreich, dann wurde in der Reitbahn das Licht ausgeschaltet. Es schien ihr unwahrscheinlich, dass sie jemand beobachtet hatte.
Und wenn doch? Dieser Gedanke fraß sich in ihr fest. Es kamen ja Gäste, nur um in der Tränke ein paar Bierchen zu trinken. So jemand hätte vom Parkplatz aus die Funzel in dem Ausweichstall bemerken können.
Die knacksenden Geräusche hatte sie auch permanent im Kopf. Polly hörte sie nun eindringlicher, stärker, als in den Minuten, in denen sie im Stall war. Jetzt gab es etwas wie ein Knallen in ihrem Kopf. Das kam daher, dass sie nun wusste, wo die Ursache lag. Polly fürchtete, dass diese Geräusche nie mehr aus ihrem Kopf verschwinden würden. Somit hatte sie keine Chance, ihre Schuld je zu vergessen. Sie würde den Rest ihres ganzen Lebens an das getötete Pony, das sie ja noch gar nicht richtig kennen gelernt hatte, denken müssen. Ein Pony, das fremd in einem neuen Stall stand, aus seinem alten Umfeld vertrieben…. Und nun tot!
Polly war froh, dass sie ihm und auch den beiden anderen kurz vorher ihre letzten Zückerchen gegeben hatte.
Im ganzen Stall war die Stimmung etwas gedrückt. Niemand aber sprach Polly darauf an. Keiner fragte sie nach Einzelheiten und gar, ob sie vorher etwas bemerkt hätte. Niemand nahm groß Notiz von ihr, als sie in den Ponystall schlich, um dort ihren Lieblingen eine kleine Leckerei zu bringen. Sie kannte ja jedes einzelne Pferdchen. Sie streichelte überall über das weiche Winterfell der Tiere. Hinten in einer Box fand sie Felix und das zweite neue Pony in einer Box zusammen untergebracht. Sie verhielten sich, als wäre nie etwas geschehen. Niemand sprach sie an.
Joachim hatte den Kindern, Als sie noch jünger waren, mal erklärt, dass Tiere so etwas wie Mitleid, Empathie, nicht empfinden könnten. Den Tieren war also das schreckliche Erlebnis nicht anzumerken. Gut so!
Etwas erleichtert suchte Polly nach ihren Freunden. Wegen der Kälte hielten sie sich nicht im Stall auf, sondern spielten in der Tränke Skat.
Hier erfuhr Polly, dass sich die Erwachsenen, vor allem der Reitlehrer und der Pferdepfleger Pitter, Vorwürfe machten. Der eine, weil er keinen Rundgang bei Helligkeit mehr gemacht, der andere, weil er den Schnee nicht vom Dach gekehrt hatte. Aber es konnte ja keiner damit rechnen…
An diesem Tag mochte Polly nicht mitspielen. Sie sagte sogar das Reiten ab. Den ganzen Tag schon hatte sie Durchfall. Es ging ihr einfach schlecht. Sie hatte sich nicht getraut, jemandem zu sagen, dass sie kurz vor dem Unglück in der alten Schmiede war und dort Geräusche wahrgenommen hatte. Sie blieb stumm. Keinem fiel das auf.
Polly nahm sich ganz fest vor: So etwas durfte ihr nie mehr passieren. Von jetzt an würde sie noch so kleine Vorkommnisse melden - und wenn sie sich dabei lächerlich machen würde….
Viel später an diesem Tag sah sie in den Abendnachrichten im Fernsehen, dass in einer Eissporthalle, in der gerade eine Eishockey-Jugendmannschaft trainierte, das ganze Dach herunterkam und aufs Eis stürzte. Geistesgegenwärtig hatte der Trainer, als es im Gebälk anfing zu knacksen, alle Jugendlichen sofort vom Eis gescheucht. Da war nichts Schlimmes passiert. Dort lebten noch alle! Schuldig, waren diejenigen, die die Halle falsch gebaut hatten. Das fand im Fernsehen statt. Was Polly nun durchmachte, fand aber in ihrem eigenen Leben statt.
(Fortsetzung folgt)
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